Von Klaus Barnstedt
In Friedrich Schillers Drama „Maria Stuart“ findet sich der Satz
„Eines Mannes Tugend erprobt allein die Stunde der Gefahr.“
Will heißen: Erst in einer Extremsituation zeigt sich der wahre Charakter eines Menschen.
Sicher hätte Schiller nichts dagegen gehabt, diesen Ausspruch auch auf Frauen, Gruppen, Verbände, Institutionen und Parteien anzuwenden.
Ich kenne niemanden, der in diesen Tagen nicht von einer Gefahr für unser Land spricht, sei es als Einzelperson oder als Repräsentant für eine größere Gruppe von Menschen.
Richten wir einen Blick darauf, welche Tugendhaftigkeit Einzelne oder Gruppierungen an den Tag legen, die vor einer Bedrohung warnen oder sich einer Gefahr ausgesetzt sehen.
(Bei den folgenden Punkten geht es um Einstellungen an sich, ohne etwaige damit einhergehende Straftaten zu berücksichtigen.)
Hinweise auf Gefahren:
- Linksextremisten stellen einen hierzulande unverändert wütenden Faschismus fest.
- Rechtsradikale beschweren sich über Volksschädlinge und Existenzen vernichtende Überfremdung.
- Sich progressiv und betroffen Gerierende warnen vor Neonazismus und einer Gefahr von rechts.
- Vermeintlich fortschrittlich Wohlmeinende beklagen einen ansteigenden Rechtspopulismus.
- Die Bürgerbewegung PEGIDA warnt vor einer Islamisierung des Abendlandes.
- Ein großer Teil der Bevölkerung sieht eine Gefahr in unkontrollierter Zuwanderung.
- Alle im Bundestag vertretenen Parteien einschließlich der meisten Medien warnen vor Rassismus und Fremdenfeindlichkeit.
- Viele Bürger misstrauen den herkömmlichen Parteien und der Berichterstattung in den etablierten Medien. Besonders in Letzterem sehen sie eine Gefahr für die Demokratie.
Damit einhergehende Verhaltensweisen:
- Widersacher, politische Gegner und als ‚anders’ Betrachtete werden zu Hassobjekten stilisiert.
- Andersdenkende werden körperlich attackiert. Dabei werden schwerste Verletzungen mit Todesfolge bewusst in Kauf genommen.
- Ausufernde, verbale Gewalt und Drohungen werden flächendeckend verbreitet.
- Skeptiker und Kritiker werden diffamiert und unterschiedslos mit politisch motivierten Straftätern in einen Topf geworfen.
- Teilnehmer von genehmigten Demonstrationen werden an der Ausübung ihres Demonstrationsrechtes gehindert, eingeschüchtert und darüber hinaus auf aggressivste Weise körperlich brutal attackiert.
- Kenntnisse, Nachrichten und Meldungen werden von einflussreichen Kreisen und Interessengruppen unterschlagen oder verharmlost und gezielt einseitig wiedergegeben.
- Frustrierte und verunsicherte Bürger, die mit erhobenem Zeigefinger auf tatsächliche und angebliche rechtsradikale Umtriebe hingewiesen werden, harren weiterer Dinge, die da kommen.
All diese nicht tugendhaften Reaktionen auf wie auch immer vorhandene, erlebte oder empfundene Gefahrensituationen sind mehr oder weniger täglich zu beobachten.
Irreversible Schäden?
Die oben angeführten Formen des Umgangs miteinander finden auf breiter, gesellschaftlicher Basis zwischen verschiedensten Interessengruppen und Teilen der Bevölkerung statt.
Sie rütteln an den Grundfesten unserer Demokratie, die als Staatsform keine Selbstverständlichkeit ist, die sich erst aufgrund historischer Entwicklungen und schmerzlicher Erfahrungen als die bisher beste Form des Zusammenlebens von Menschen herauskristallisiert und etabliert hat.
Es versteht sich von selbst, dass eine funktionierende Demokratie getragen wird von Überzeugungen, welche sich ebenfalls erst im Laufe der Menschheitsgeschichte als kulturelle und zivilisatorische Errungenschaften herausbilden mussten.
Es sind dies vor allem die Idee einer umfassenden persönlichen Freiheit, die selbstverständliche Zubilligung der Unversehrtheit eines jeden Einzelnen und das fraglose Zugeständnis eines individuellen Strebens nach Glück.
Doch ohne gelebte Übereinkunft einer grundlegenden Respektierung des anderen, ohne Rücksichtnahme, ohne Aufrichtigkeit und Verbindlichkeit, und zwar auf allen gesellschaftlichen Ebenen, verkommt eine Demokratie zur Makulatur.
Demokratie sollte schließlich mehr sein als nur die verkappte Organisationsform für eine reibungslos funktionierende Konsumgesellschaft.
Ist der Schaden, der in unserer Demokratie schon seit Jahren zunimmt und in diesen Tagen und Wochen eskaliert, durch eine Besinnung auf ihre zivilisatorischen Voraussetzungen einzudämmen?
Oder muss erst alles in Trümmern liegen, um einen Neubeginn starten zu können?