Von Nicolaus Fest
Deutschland gilt überall auf der Welt als wirtschaftliches Vorbild, als ökonomische ‚Lokomotive’ der europäischen Entwicklung und Stabilität. Doch ist die Frage, wie lange noch, und ob sich die Gesellschaft nicht schon längst, in den Kategorien Max Webers, von einer protestantisch-pharisäischen zu einer katholisch-publikanischen entwickelt hat, mit anderen Worten: Von einer, in der wirtschaftlicher Erfolg als Gunstbeweis Gottes gesehen wird, zu einer, in der sich Arme ihrer Armut nicht mehr schämen müssen und das schlechte Gewissen eher die Besserverdienenden trifft. Während in protestantisch fundierten Gemeinschaften der Anreiz zur Leistung wie zum Verlassen der Armut groß ist, sind publikanische Regionen eher entwicklungsresistent.
Für die Beurteilung dieser Frage hat der argentinische Staatsrechtler Mariano Grondona einst einen Katalog von kulturellen bzw. weltanschaulichen Faktoren entwickelt, die sich positiv oder negativ auf die wirtschaftliche Entwicklung eines Landes auswirken. Neben der oben genannten protestantisch-pharisäischen Disposition sprächen seiner Ansicht nach folgende Indizien für wirtschaftliche Entwicklung:
– Kennzeichen entwicklungszugewandter Gesellschaften ist das Vertrauen in das Individuum, in seine Kreativität und Vernunft unter Inkaufnahme der damit verbundenen Risiken. Politisch heißt das: Achtung der Vertrags- und Tariffreiheit, gleichzeitig Minimierung von Bürokratie, Subventionierung und staatlichen Vorgaben.
– Für entwicklungsaffine Gesellschaften sind künftige Generationen bei der Verteilungsgerechtigkeit zu berücksichtigen; dies äußert sich in der Neigung zum Sparen. Dagegen betonen entwicklungsresistente Gesellschaften die Gegenwart und den Konsum.
– Positive Beurteilung von Wettbewerb. In entwicklungsresistenten Gesellschaften wird Wettbewerb dagegen als Aggression gesehen, durch staatliche oder ständische Eingriffe reguliert. Neid und Ideen von utopischer Gleichheit werden legitimiert.
– In entwicklungszugewandten Gesellschaften herrscht der Vorrang der Wissenschaft, also der Maßstab von Falsifizierung und Verifizierung. Dagegen sind wirtschaftsabgewandte Gesellschaften geprägt von Dogmen und Ideologien.
– Fortschrittliche Gesellschaften schätzen Sekundärtugenden wie Gewissenhaftigkeit, Pünktlichkeit, Höflichkeit, Ordentlichkeit, welche die Effizienz und Harmonie im Umgang fördern. Entwicklungsresistente Kulturen legen hierauf keinen Wert, weil diese Eigenschaften „im Schatten der großen Tugenden wie Liebe, Gerechtigkeit, Mut und Großherzigkeit stehen“.
– Entwicklungsaffine Länder zeichnen sich durch den Realismus ihrer Vorhaben aus; sie beginnen nur, was sie auch leisten, abschätzen und in ihren Folgen bewältigen können. Zeichen entwicklungsresistenter Kulturen sind daher unfertige Kolossalprojekte wie Bahnhöfe, Flughäfen, Kulturbauten. Jeder Tag bringt eben einen neuen Traum…
– Ökonomisch fortschrittliche Gesellschaften sehen sich als Schöpfer einer Welt, die man verändern kann; fortschrittsabgewandte dagegen im ewigen Kampf gegen sie und ihre furchtbaren Kräfte: Kapitalismus, Imperialismus, Zionismus, Gott oder Satan.
– Entwicklungsaffine Länder: Herrschaft des Rechts. Entwicklungsresistente Länder: Herrschaft von Basisdemokratie und Umfragen.
Soweit Grondona, die Schlüsse mag jeder selbst ziehen. Mitzuteilen wäre allerdings noch eine weitere Kategorie, die auch den Autor betrifft: Entwicklungsaffine Gesellschaften schätzen die Arbeit und jeden Ausdruck tätigen Schaffens, weshalb vor allem der Unternehmer im hohen Ansehen steht. Dagegen gilt in entwicklungsresistenten Ländern die Bewunderung solchen Berufe, die keine faßbar-schöpferischen Produkte erzeugen: Künstler, Kardinal, EKD-Vorsitzende, (Alt-)Politiker und: Journalisten…
http://nicolaus-fest.de/deutschland-2015-delegitimation-und-entwicklungsresistenz/