Von Nicolaus Fest
Zum Journalismus in diesem Land. Am Mittwoch, als die sexuellen Attacken von Köln und Hamburg und die Ratschläge von Frau Reker ausnahmslos alle Diskussionen bestimmen, überrascht Berlins größte Boulevardzeitung B.Z. mit einer fast gleichen Aufmachung auf Vorder- und Rückseite. Einmal fingiert das Blatt eine Titelzeile zu den Kölner Vorkommnissen, wenn die Recherche allein auf dem Internet gegründet hätte („Angriff der Sex-Horden“ / „Massenvergewaltigungen“ / „Migranten machen Jagd auf Frauen“). Dann noch einmal die gleiche Aufmachung mit der Titelzeile: „Das sind die Fakten“ („Wir wissen nicht, wer die Täter sind“ / „Es gibt keinen Hinweis, dass es sich um Menschen handelt, die in Köln Unterkunft als Flüchtlinge bezogen haben“ / „90 Anzeigen, Ermittlungen wegen einer Vergewaltigung“).
Nun scheint auf den ersten Blick die Zeile „Migranten machen Jagd auf Frauen“ nicht wirklich falsch, denn genau dieser Umstand ist doch wohl das, was der Kölner Polizeichef als „Straftaten einer völlig neuen Dimension“ bezeichnete; Trickdiebstahl oder Handtaschenraub meinte er sicherlich nicht. Mehr aber noch irritiert die Verharmlosung der massiven sexuellen Nötigungen, die die B.Z. hinter dem Terminus „90 Anzeigen“ versteckt. Tenor: Keine Vergewaltigung, also nicht so schlimm. Auch der Hinweis, dass ja keinesfalls geklärt sei, ob die Täter tatsächlich in Flüchtlingsheimen lebten, ist nachgerade absurd. Wenn, wie überall zu lesen und von der Polizei bestätigt, die Täter aus dem arabischen und nordafrikanischen Raum stammen, handelt es sich in jedem Fall um Migranten. Und genau das ist das entscheidende Faktum. Ob sie hingegen irgendeinen Flüchtlings- oder Asylstatus hatten oder erst vor kurzem eingewandert sind, spielt keine Rolle. Sollten die Täter schon länger in Köln leben, wäre das eher ein Grund zu noch größerer Beunruhigung.
Besonders aber verblüfft, wie die B.Z. hier den Fokus verschiebt. Deutschland diskutiert über beispiellose Straftaten von Personen, die offenkundig ein extrem fragwürdiges, mit unseren Werten nicht zu vereinbarendes Frauenbild haben und mit ihren Taten die öffentliche Ordnung massiv bedrohen. Aber für die B.Z. ist Thema des Tages allen Ernstes die Glaubwürdigkeit von Instagram, Twitter und Facebook. Darauf muss man kommen!
Der Chefredakteur der B.Z. ist Peter Huth, gleichzeitig stellvertretender Chefredakteur von BILD. In Hamburg befindet sich die größte BILD-Regionalredaktion, in Köln eine kaum kleinere. Doch keine der Redaktionen, die früher angeblich den Schlag jeder einzelnen Welle von Rhein und Elbe mitbekamen, hatte irgendeine Kenntnis von den Vorgängen am Hauptbahnhof respektive auf der Reeperbahn. Auch BILD berichtete erst drei Tage nach den Ausschreitungen, als in den sozialen Netzwerken schon sehr viel Zutreffendes zu lesen war. Selten zuvor wurden die etablierten Medien so klar von den sogenannten sozialen vorgeführt, kaum je war ihr Versagen so offenkundig. Eine trostlose, überkomplette Niederlage – und kaum ein Anlaß, sich ausgerechnet am Beispiel der Geschehnisse in Köln oder Hamburg über Twitter & Co zu erheben.
Doch scheint niemand aus der Profession befremdet. Auf Facebook, wo Peter Huth (natürlich) die beiden Titelseiten postete, überschlugen sich viele Kollegen vor Bewunderung: „Du hast echt einen Lauf“, „Einfach genial“, „Das ist sowas von gut“, „großartig“. Und Ähnliches mehr. Früher hätte man den Steinewerfer im Glashaus bestenfalls fragend angeguckt; heute werfen die meisten fröhlich mit. Und der Journalismus liegt in Scherben.