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Der Fluchtliesel

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Von Thomas Stahl

Vorab: Dieser Text strotzt nur so vor Sarkasmus und Ironie, enthält aber einen wahren Kern, den jeder für sich selber rauspicken kann… wenn man denn will.

Fluchtliesel (m) sind meist Herdentiere, die – einmal eine Richtung vom Leitliesel vorgegeben, welcher den Ruf der Lockkuh vernommen hat – unbeirrt ihre drei Sachen packen und in Scharen beginnen umzuziehen. Ein Fluchtliesel kommt also selten allein. Warum die Fluchtliesel sich in Bewegung setzen, ist nie so ganz klar. Meist sind sie mit der Gesamtsituation unzufrieden, manchmal auch nicht erwünscht, also dort, wo sie leben. Manchmal einfach nur zu faul zum aufräumen. Manchmal ist da aber auch ein Abgrund, in den sie hinunterfallen zu drohen. Und da sie das nicht wollen, ziehen die Fluchtliesel dann halt um – sind ja keine Lemminge, die Fluchtliesel.

Es gibt aber auch ein paar Fluchtliesel, die gar keine echten Fluchtliesel sind und das Umziehen aus anderen Gründen betreiben. Sie gehören zwar auch zur Gattung der Liesel, sind aber meist Kampfliesel oder Missionarsliesel. Beide werden fälschlicherweise oft mit den Schmarotzlieseln verwechselt, die es aber nur noch selten reinrassig gibt.

Ein Fluchtliesel hat im Allgemeinen eine niedrige Hemmschwelle was das Umziehen angeht: Fehlt der direkte Anreiz vor Ort (wie z.B. ein Abgrund oder künstlich durch Unescoten hervorgerufene Futternot), reicht für gewöhnlich der Ruf einer seltenen (im Fachjargon: seltsamen) Lockkuh aus, um eine Gruppe von Fluchtlieseln in Bewegung zu setzen, der sich auf ihrem Weg ins verlockende Schlaffenschland, aus dem die seltsame Lockkuh ruft, immer mehr Fluchtlieselgruppen anschließen. Die Fluchtliesel lassen sich auf ihrem Weg dorthin gerne durch Orientierungswixelzecken führen, die schnell eine passende Route anzeigen, sich jedoch dafür an den Fluchtlieseln vollsaugen. Macht aber nix. Die Fluchtliesel können das meist ganz gut ab. An den bald überall sichtbaren Trampelpfaden der Fluchtliesel entsteht so eine blühende Kultur der Orientierungswixelzecken, die noch ausgeprägter im verheißenen Schlaffenschland, dort jedoch gepflegt durch eine andere Art der Wixelzecken, zu finden ist.

Fluchtliesel sind meist einfach zu erkennen: Sie haben kaum mehr als eine Tasche, oft einen sogenannten Pinsel im Gesicht und einen Leuchtalmanach dabei. So ziehen sie durch viele Länder, dem Ruf der seltsamen Lockkuh folgend, und verwandeln sich dabei Stück für Stück vom Fluchtliesel hin zum gewöhnlichen Liesel, der eigentlich jederzeit stehenbleiben und sich niederlassen könnte – wäre da eben nicht der Ruf der seltsamen Lockkuh, die mit ihrem betörendem Gesang und verstärkt durch den Chor der Wixelzecken, den Liesel immer weiter laufen lässt, bis er endlich am Ziel angekommen ist. Der Gesang der seltsamen Lockkuh wird jedoch, je näher die Liesel ihrem Ziel kommen, immer kühler… Der Fluchtliesel hat bis dahin sein fluchtlieseltypisches Verhalten abgelegt und metamorphiert vollständig zum gewöhnlichen Liesel. Einige jedoch nehmen das Verhalten der anderen Lieselarten an, sobald sie feststellen, dass die seltsame Lockkuh in Schlaffenschland von der Ferne viel süßer und lieblicher geklungen hat und Schlaffenschland deutlich weniger attraktiv ist als gedacht. Manche werden sogar aggressiv gegen die Bewohner Schlaffenschlands. Die Schlaffen, die die Fluchtlieseln anfangs freundlich begrüßt und beklatscht haben, finden die Liesel jetzt gar nicht mehr so toll, weil die nun offensichtlich keine süßen und kuscheligen Fluchtliesel mehr sind, wie man sich anfänglich noch erzählte. Der Unmut auf beiden Seiten wächst daher stetig an, weil die Liesel immer mehr werden, die Schlaffen immer mehr Futter mit den Lieseln teilen müssen und weil nur wenige Liesel nach Schlaffenmanier in Schlaffenschland bei der Futtersuche mithelfen können oder wollen. Die Schlaffen wissen nichts mit den Lieseln anzufangen und die Liesel wissen nichts mit den Schlaffen anzufangen. So ist das nun mal, wenn plötzlich zwei unterschiedliche Spezies das selbe Gebiet bewohnen wollen und sich keine ökologischen Nischen finden, die dauerhaft konfliktfrei besetzt werden können. Daher besinnen sich nun die ersten Liesel wieder ihrer Fluchteigenschaften und lieseln dahin zurück, wo sie einst fortgefluchtlieselt sind.

Teil zwei folgt vielleicht, sobald die Realität in ihrer brutalen Heftigkeit weiter fortgeschritten ist.

Hoffentlich gibt es nicht genug Stoff dafür… aber das bleibt wohl Wunschdenken.

http://freiraum-magazin.com

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