Von Klaus Peter Krause
Merkel bei Anne Will: Ihren Kurs verteidigt, ihre Kritiker verstört – In den Fußstapfen Martin Luthers: Hier stehe ich, ich kann nicht anders – Einen Anlass zur Umkehr sieht sie nicht – Merkel als „weitsichtige Leitfigur des Kontinents“ – Die Schwachstelle in Merkels Formel – Was in dem Gespräch fehlte – „Der Besuch der kalten Dame“
Wenn sich erhebliche Teile des Wahlvolks von Kanzlerin Merkel und ihrer Politik abzuwenden scheinen, geht diese ins Fernsehen und meldet sich zu einem Solo-Auftritt in der Sendung „Anne Will“ an. Das Fernsehen freut sich und pariert: Wenn sich Kanzler mitteilen wollen, bleibt ihm anderes ohnehin nicht übrig, zumal, wenn sie sich ansonsten rarmachen. Eine höhere Quote bringt das außerdem. So hingen denn auch am Sonntagabend (28. März) sechs Millionen Zuschauer an Merkels Lippen. Für die Kanzlerin ist es die Gelegenheit und das Ziel, ihre Politik als staatsmännisches Handeln mit hoher Verantwortung darzustellen. Fragesteller wie Anne Will sind die Stichwortgeber. In der Sendung ging es um Merkels Flüchtlingspolitik, genauer: um den von ihr ausgelösten Massenansturm von Verfolgten und Nichtverfolgten vor allem nach Deutschland, darunter vermutlich auch Menschen mit nicht so guten Absichten als nur der Flucht vor Armut und Lebensgefahr. Geboren wurde der Auftritt aus höchster Not. Am 13. März finden drei Landtagswahlen statt. Merkel sieht sich gezwungen, ihre Wähler, die wegen der Flüchtlingsmassen an die AfD verloren zu gehen drohen, bei der Stange zu halten und den absehbaren Verlust nicht zu groß werden zu lassen. Ob ihr das gelingt wird sich zeigen. Der Titel der Sendung immerhin klang drängend „Wann steuern Sie um, Frau Merkel?” Doch sehr bald ward klar: Sie will nicht umsteuern.
Ihren Kurs verteidigt, ihre Kritiker verstört
Das Medienecho, soweit überschaubar, ist sachlich-freundlich bis beifällig. Das Handelsblatt Online nennt sie eine „Madame Zuversichtlich“ und schreibt (hier): „Sie verteidigt ihren Kurs in der Flüchtlingskrise – und verstört ihre Kritiker. Denn für Merkel ist klar: Es gibt nichts, was sie von ihrem Weg wird abbringen können.“ Und an späterer Stelle: „Ihre Kritiker dürften eher verstört am späten Sonntag Abend ins Bett gegangen sein, ihre Unterstützer mit Bewunderung, ob ihres Glaubens an die Einsicht der anderen.“ An Merkel scheiden sich die Geister: Von den „Verstörten“ sehen viele ihre Hoffnung in der AfD, die unentwegten „Bewunderer“ ihre Hoffnung wohl in einem Wunder, doch nach allem, was absehbar ist, werden sie das als ihr blaues Wunder erleben.
„Das ist schon mutig, vielleicht auch naiv“
So kämpferisch habe man Merkel selten erlebt, meint die Wirtschaftswoche Online (hier) und fährt fort: „Neues gab es allerdings nicht. Schon bei ihrem ersten Auftritt im vergangenen Jahr bei ‚Anne Will’ verteidigte Merkel ihre Botschaft vom ‚Wir schaffen das’. Auch diesmal sah sie die Lösung in der Bekämpfung der Fluchtursachen in Syrien, sie setzt weiter auf Verhandlungen mit der Türkei und die Sicherung der Außengrenzen. Das ist schon mutig, vielleicht auch naiv, angesichts des steigenden politischen Drucks auf sie und der Flüchtlingszahlen, die jeden Tag in Griechenland ankommen. Doch wer auch immer erwartet hatte, die Kanzlerin werde kurz vor den wichtigen Landtagswahlen im März umsteuern, muss sich auch nach diesem Abend weiter gedulden. ‚Nein, ich steuere nicht um’, sagte sie, als sie gefragt wurde, ob es nicht Zeit sei einzulenken.“
Merkel in den Fußstapfen Martin Luthers
Die Süddeutsche Zeitung Online (hier) schreibt: „Kanzlerin Merkel zeigt sich im ARD-Talk ‚Anne Will’ erneut standhaft, was ihren Kurs in der Flüchtlingskrise angeht. Merkels Unbeirrbarkeit wirkt echt – und dürfte ihren Kritikern neues Futter geben.“ Das Blatt bescheinigt ihr die Attitüde „Ich sitze hier, ich kann nicht anders“. Dazu fällt einem sofort Martin Luther ein, 1521 in Worms vor dem Reichstag, dort angeklagt der Ketzerei, wo er sich zu verteidigen hatte („Hier stehe ich und kann nicht anders. Gott helfe mir. Amen“). Das Ergebnis von Luthers Lehre war die kirchliche Reformation. Merkels Lehre und Politik, nicht nur in der Flüchtlingspolitik, läuft, wenn sie nicht endlich gebremst wird, unübersehbar auf eine Deformation hinaus, nämlich die von Deutschland.
Einen Anlass zur Umkehr sieht Merkel nicht
Unter der Überschrift „Angela Merkel rückt von ihrem Weg nicht ab“ listet Focus Online (hier) im Minutenprotokoll der Sendung eine ganze Reihe einzelner Merkel-Äußerungen als „die wichtigsten“ auf, darunter diese: „Ich bin dafür Bundeskanzlerin, dass ich das, was auf unser Land zukommt, löse. Wir können aus dieser Herausforderung stärker herauskommen, als wir hereingegangen sind.” Auf die Frage, ob es etwas geben würde, dass sie dazu veranlassen würde umzukehren in ihrem Weg, lautet Merkels Antwort: „Das sehe ich nicht.” Auch sagt sie, die Zustimmung für die AfD werde wieder zurückgehen, wenn die Menschen sähen, dass die Probleme gelöst würden: „Das spornt mich an, noch schneller die richtige, nachhaltige Lösung zu finden.” Doch was ist für Merkel die richtige Lösung? Es könnte sein, dass „die Menschen“ mit der richtigen, nachhaltigen Lösung, die Merkel verfolgt, überhaupt nicht einverstanden sind.
Merkel als „weitsichtige Leitfigur des Kontinents“
Für die FAZ-Online (FAZNet) ist Merkel die „Lordsiegelbewahrerin Europas“ (hier). Sie bescheinigt ihr „keine Panik in der Flüchtlingskrise, aber umso mehr Weitsicht“. Bei Anne Will habe sich Angela Merkel als unverzagte Politikerin präsentiert, die unermüdlich an der eigentlichen Mission ihrer Kanzlerschaft arbeite: der Rettung der europäischen Idee. Weiter liest man: „Hochkonzentriert und engagiert nahm Merkel zur Kritik an ihrer Politik Stellung, verbreitete Optimismus – und rückte dabei keinen Millimeter von ihrem Kurs ab.“ Die FAZ zitiert den Merkel-Satz „Wenn ich den Menschen meinen Weg richtig erkläre, werden sie ihn mitgehen“ und schreibt ferner: „Bei Anne Will präsentierte sich die Kanzlerin, der in der Euro-Krise noch mancher vorgeworfen hatte, es mit der europäischen Solidarität nicht allzu ernst zu meinen, als weitsichtige Leitfigur des Kontinents, die in ihrer größten Bewährungsprobe zugleich die eigentliche Mission ihrer Kanzlerschaft gefunden hat: die Lordsiegelbewahrerin der europäischen Einigungsidee zu sein.
„Eine Umfallerin ist sie nicht“
In der FAZ–Druckausgabe vom 1. März kommentiert der Leitartikler Berthold Kohler (hier): „Das muss man der Kanzlerin lassen: Eine Umfallerin ist sie nicht. Die Frau, der man lange nachsagte, keine eigenen Überzeugungen zu haben, in der Mitte des Stromes zu schwimmen und über Nacht ihre Politik zu ändern, wenn ihr das größere Zustimmung einbringt, stemmt sich unbeirrbar gegen den Sturm, der ihr in der Flüchtlingsfrage ins Gesicht bläst. Er rüttelt an ihr inzwischen aus allen Himmelsrichtungen, in Deutschland wie in ganz Europa.“ Überschrieben ist der Beitrag mit „Merkels Schwachstelle“ und der Unterzeile „Abermals warb die Kanzlerin für ihre Logik. Doch wieder überging sie entscheidende Faktoren“.
Die Schwachstelle in Merkels Formel
Weiter schreibt Kohler im FAZ-Leitartikel: Die politische Logik der Kanzlerin, auf die sie sich auch jetzt im Fernsehen wiederholt berief, überzeugt, anders als von ihr behauptet, viele ihrer Partner nicht. Bezeichnend war, dass die Kanzlerin kein einziges Mal Frankreich erwähnte. …. Die Merkelsche Logik wird schlicht nicht überall anerkannt, auch schon in ihrer eigenen Partei nicht, von der CSU ganz zu schweigen. …. Die Schwachstelle in Merkels Formel ist der menschliche Faktor. Die Kanzlerin setzt darauf, dass jeder, der auch nur halbwegs so lange und gründlich die Sache durchdacht hat wie sie, zu dem einzig möglichen Schluss kommen muss: zu ihrem.“
Angst vor Überfremdung beschäftigt die Kanzlerin offenbar nicht sonderlich
Kohler weiter: „Nicht ausreichend einkalkuliert hat sie, weder in der innenpolitischen Debatte noch im Ringen mit den anderen Regierungen, Wunschvorstellungen auf der einen Seite und Befürchtungen auf der anderen, die sie selbst offenbar nicht sonderlich beschäftigen: die Angst vor Überfremdung, vor Unsicherheit, vor politischer wie kultureller Heimatlosigkeit und vor dem Gefühl, nicht mehr Herr im eigenen Haus zu sein. Das sind real existierende Sorgen, die den Populisten und Extremisten in ganz Europa Wähler zutreiben. Je mehr sie Zulauf und damit Einfluss auf die Politik bekommen, desto geringer werden die Aussichten auf eine Lösung, die der EU mehr nutzt als schadet.“
Der Name Seehofer fiel nur ein einziges Mal
Auch dem Spiegel Online (hier) fehlte etwas, allerdings weniger Belangvolles. Er hält fest, was fehlte: „Eigentlich hätte man erwarten dürfen, dass Anne Will ihren Gast dezidiert mit den Querschüssen und Attacken aus Richtung Bayern konfrontieren würde. Doch das unterblieb seltsamerweise. Die immer noch als Schwesterpartei firmierende CSU als solche kam praktisch nicht vor. Nur knapp wurde Edmund Stoibers Vorwurf des Spaltens erwähnt, zu dem die CDU-Chefin lapidar anmerkte, sie sei da anderer Meinung. Und der Name Seehofer fiel nur ein einziges Mal, als sie zum Schluss noch einmal betonte, sie sehe nicht, was ein Umsteuern bewirken könne. Selbst der CSU-Chef habe ihr schließlich Erfolg gewünscht.“
Was in dem Gespräch mit Anne Will fehlte
Was wirklich fehlte, war die Frage, was die Kanzlerin dazu getrieben hat, Deutschland für alle Bedrängten wie ein Scheunentor zu öffnen, und eine Antwort darauf von Merkel, die weiter reicht, als nur auf Humanität, Menschenpflicht und Asylrecht zu verweisen. Es fehlten die Folgen dieser Politik für Deutschland und die Deutschen. Vor allem aber fehlten die wirklichen Ursachen für die Massenflucht. Gewiss, auch die Armut, aber vor allem die politischen Destabilisierungen und Kriege, angezettelt von westlichen und vor allem amerikanischen Geostrategen, die noch zusätzliche Armut zur Folge haben. Deutschland als einer der amerikanischen Vasallenstaaten muss hierbei Vasallendienste leisten. Für das Fernsehen kein Thema. Tabu.
„Der Besuch der kalten Dame“
Das Regionalblatt Lübecker Nachrichten (LN) hat dem Merkel-Auftritt im Fernsehen seine ganze Seite 3 gewidmet. Der Kanzlerin sei dort ein Befreiungsschlag gelungen, in der Flüchtlingskrise wirke sie verblüffend gelassen. Weiter schreibt Autor Matthias Koch: „bei ‚Anne Will’ erfuhr man viel über Merkels Haltung, ihre Entschlossenheit und Stimmung, aber wenig über ihre Strategie.“ Klar, wer wird schon seine Strategie verraten. Aber dafür, dass Merkels Zuversicht und Selbstvertrauen größer sind, als viele denken, listet Koch fünf Gründe auf (der Euro als politischer Hebel, der neue Freund Alexis Tsipras in Griechenland, die mögliche Isolierung Österreichs, neue Beweglichkeit der Türkei und die drei Landtagswahlen, durch die Merkel trotz der erwarteten AfD-Erfolge machtpolitisch nicht bedroht sei). Überschrieben ist der LN-Beitrag mit „Der Besuch der kalten Dame“.
Ein Wortspiel mit versteckter Anspielung?
Von einer Kälte Merkels findet sich in dem Beitrag zwar nichts, aber die Verführung zum Wortspiel mit dem Welterfolg-Theaterstück von Friedrich Dürrenmatt „Der Besuch der alten Dame“ ist wohl einfach zu groß gewesen, um ihr nicht zu erliegen. Oder sollte der Titel als versteckte Anspielung genommen werden, was Dürrenmatts alte Dame mit ihrer einstigen Heimatstadt im Schilde führt, als sie dort wieder aufkreuzt? Das wird zu weit gehen. Doch ist den Lübecker Nachrichten das Wortspiel im Zusammenhang mit Merkel nicht als erste Redaktion eingefallen. Die Süddeutsche Zeitung hat es schon am 12. November 2012 als Überschrift eines Berichts über einen Merkel-Besuch in Portugal verwendet (hier).