Von Max Erdinger
Soll man die Grenzen schließen? Soll man sie öffnen? Ist der Mindestlohn gut? Ist er schlecht? Brauchen wir Gender Mainstreaming oder brauchen wir es nicht? Was soll der Staat und was soll er nicht? Der Demokrat ist gewöhnt, derlei zu diskutieren. Nun ist aber hinsichtlich des Wertes einer Debatte nicht nur zu fragen, was diskutiert wird, sondern viel wichtiger noch, wer diskutiert und welche Prämissen gelten.
Bundesdeutsche Debatten leiden an zu vielen Prämissen und zu viel Meinung. Allgemein akzeptierte Prämissen sind unter anderem, daß man niemanden beleidigen sollte, daß Rassismus keine Berechtigung hat, daß es eine soziale Gerechtigkeit gibt, wenn man nur eine schafft – und daß Meinung Wissen ersetzt. Anders wäre die politische Langlebigkeit von Figuren wie Claudia Roth auch nicht zu erklären. Anders ausgedrückt: Bundesdeutsche Debatten sind allzu oft welche, die von Idioten geführt werden. Sie sind also die reine Zeitverschwendung. Sie dienen eigentlich nur der kollektiven Selbstvergewisserung, daß es demokratisch zugeht und daß dadurch die wichtigste Voraussetzung für richtige Ergebnisse schon erfüllt sei. Das ist albern und sonst nichts. Die Aufforderung: „Diskutieren Sie mit!“, ohne vorher zu fragen: „Wer sind sie überhaupt?“, klingt nur recht demokratisch. Tatsächlich ist es eine Aufforderung, die Kakophonie weiter anschwellen zu lassen, weil Schwellung schön ist.
Das Grundübel ist also, daß der Wille zur Wahrheit ersetzt worden ist durch die Anbetung der Meinung als solcher. Damit ist in der Realität kein Blumentopf zu gewinnen. Wahr dürfte sein, daß der Satz: „Ich weiß es nicht“, so selten zu hören ist, weil es für eine Meinungsäußerung unerheblich ist, ob sie von Wissen getragen ist. Was weiß der Demokrat zumeist? Er weiß, welche Meinung er hat. Bisweilen ändern sich Meinungen auch. Grund dafür dürfte oft genug sein, daß jemand etwas weiß, das er vorher noch nicht wusste. Das ändert aber nichts daran, daß er vorher so sehr auf die Richtigkeit seiner Meinung gepocht hat, wie er es bei „besserem Wissen“ später ebenfalls tut.
Die Vernunft
Es gibt nicht wenige Zeitgenossen, die sich für überlegen halten, weil sie sich die Vernunft zur Grundlage ihrer Äußerungen auserkoren haben. Es gibt hier bei Facebook eine Gruppe, die sich „vernunftorientierte Atheisten“ nennt. Es gibt auch eine „Partei der Vernunft“ (PdV). Diese Leuten betrachten Vernunft als einen Wert, als tragfähige Grundlage aller weiteren Überlegungen. Sie scheinen zu übersehen, daß Vernunft zu allen Zeiten instrumentalisiert worden ist, um Dinge zu rechtfertigen, die sich später als sehr unvernünftig herausgestellt haben. So vernünftig es beispielsweise im Dritten Reich gewesen ist, die Nasenlängen unterschiedlichster Ethnien zu vermessen, um zu wissenschaftlich – also vernünftig – fundierten Ergebnissen hinsichtlich der Prognostizierbarkeit individuellen Verhaltens anhand der Nase zu kommen („Ich sehe es deiner Nasenspitze an!“), so vernünftig ist es heute („Genderwissenschaften“) Geschlecht zu einem sozialen Konstrukt zu erklären und die Biologie als biologistisch zu diffamieren. Seit der Aufklärung sind die Zeiten jeweils von Vernunft geprägt, bzw. von der Anbetung derselben. Die Vernunft wurde zu einer Zivilreligion, welche nach und nach die alte Religion ablöste. Die Leichenberge allerdings, die von aufgeklärten, vernunftorientierten Potentaten jedweder Couleur in einem einzigen Jahrhundert, dem zwanzigsten nämlich, produziert worden sind, sind höher als die der vorangegangenen 2000 Jahre zusammengenommen. Ist „Aufklärung“ also unbedingt gleichzusetzen mit „Verbesserung“?
Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als daß ein Christ den Gedanken zulassen würde, der Mensch habe Gott erfunden und nicht umgekehrt. Vielleicht fiele es ihm leichter, wenn er das „erfunden“ ersetzen würde durch ein „gefunden“. Gott gefunden, anstatt erfunden also. Das Universum, so sagt man, sei etwa 15 Mrd. Jahre alt, die Erde etwa 4,5 Mrd. und der homo sapiens ein paar hunderttausend Jahre. Nach der christlichen Glaubenslehre aber ist Gott der Anfang und das Ende von allem. Also gab es ihn schon lange vor dem Menschen. Erkannt hat ihn halt niemand. Dinosaurier haben keine Kirchen gebaut. Was wäre die Welt, wenn sie niemand so sehen könnte, daß er sie ins Verhältnis etwa zur Größe unseres Sonnensystems stellen kann? So weit mir bekannt ist, kann dieses Größenverhältnis nur der Mensch realisieren. Eine interessante Frage, die sich seltsamer- und logischerweise ohne jede Aussicht auf Erkenntnisgewinn stellt, ist also die, ob es eine tatsächlich vernünftige, weil zutreffende Beschreibung der Welt ohne den Menschen überhaupt geben kann und ob sich außer dem Menschen „jemand“ für ihr Erkennen und ihre Beschreibung „interessieren würde“. Was wäre die Welt ohne den Menschen? Die Welt? Oder wäre sie Wrschtlpfrmpft? Gibt es etwas, das der Mensch nicht zu erkennen in der Lage ist? Und wer sollte diese Frage beantworten?
Religion und Zivilreligion
Ich gehöre keiner Kirche an. Einige werden aber mitbekommen haben, daß ich mich dem traditionellen Katholizismus verbunden fühle. Das hat eigentlich einen sehr einfachen Grund. Der traditionelle Katholizismus stellt Gott in den Mittelpunkt, nicht den „vernünftigen“ Menschen. Das halte ich für sehr vernünftig. Wenn der Mensch Gott gefunden hat – ich sage lieber „gefunden“ anstatt „erfunden“ – , dann deswegen, weil ihn das von der Unmöglichkeit erlöst, sich selbst schlüssige Antworten auf die Fragen zu geben, die er sich zweifellos sehr viel leichter stellen als beantworten kann. Gott ist sozusagen die Antwort auf die natürlichen Grenzen des menschlichen Verstandes und damit auch eine auf das Diktat einer sehr schwankenden Vernunft. Die Existenz Gottes muß also dogmatisch gelten und das ist eben dann möglich, wenn man den „Gesetzgeber“ externalisiert, seine „Anordnungen“ auf diese Weise dem menschlichen Zugriff entzieht und ihn dennoch in die Welt hineinwirken „läßt“ . Wenn man so will ein genialer Kniff, die menschliche Unzulänglichkeit in der Vernunft „auszutricksen“.
Zivilreligionen sind kulturgeschichtlich daher ein Schritt hinter diesen Entwicklungsstand zurück. Das Christentum ist etwa 2000 Jahre alt, gemessen allein an der Menschheitsgeschichte also sehr jung und nach allen meinen Überlegungen dazu das Revolutionärste, das dem menschlichen Vernunftdenken je eingefallen ist. Man muß es unbedingt bewahren, auch gegen die Ansichten derjenigen, die es für eine höchst irdische Agenda instrumentalisieren wollen. Es bedeutet auch Freiheit. Der Dekalog würde als Gesetzbuch eigentlich ausreichen. Sich auf Inkonsistenzen zu kaprizieren, die sich im Laufe der letzten 2000 Jahre via Wissenschaft und Vernunft offenbart haben, ist nicht vernünftig, sondern kleingeistig. Die Grundaussage des traditionellen Christentums ist doch die: Du bist zu dämlich, die Welt zu begreifen. Du brauchst eine nicht zu hinterfragende Autorität. Diese Aussage ist wahr. Deshalb sollte sich eigentlich auch alles an ihr ausrichten. Wahrheit ist. Punkt. Meinung ist – NICHTS. Auch Punkt.
Gott ist sozusagen der Stifter des Seelenfriedens in der Kakophonie der Vernünftigen. Verstand und Vernunft sind nun einmal nicht dasselbe wie Geist.
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