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Plädoyer für eine Schadensersatzpflicht demokratischer Politiker

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Warum Abgeordnete gegenüber ihren Wählern juristisch haften und persönlich ersatzpflichtig gemacht werden können sollten, wenn sie vorsätzlich oder fahrlässig Schäden verursachen

Von Carlos A. Gebauer

Man erntet in diesen Tagen keinen Widerspruch mit der Feststellung, dass sich unsere europäischen Demokratien in einer Krise befinden. Teils erscheint diese Krise schicksalsbedingt, weil tragische äußere Ereignisse sie befördern. Teils aber ist die Krise auch hausgemacht, weil der Versuch des Umbaus etablierter Nationalstaaten zu einem mehr oder minder gesamteuropäischen Staatswerk mit quälenden Operationsschmerzen einhergeht. Niemand vermag heute im Entferntesten seriös abzuschätzen, wie Deutschland und die EU in Zukunft politisch gestaltet sein werden. Zu hoffen steht, dass Einigkeit herrsche, in dieser Zukunft blieben uns Freiheit und Demokratie erhalten. Was aber muss geschehen, damit uns unsere demokratischen Institutionen nicht verloren gehen? Welcher strukturellen Umbauten bedarf es, um den vielerorts beklagten demokratischen Defiziten nicht weiteren Raum zu geben?

Alle Menschen sind gleich: Wer vorsätzlich oder fahrlässig Schäden verursacht, haftet dafür und kann persönlich ersatzpflichtig gemacht werden. Das ist gut und gerecht. Im Bild der sprichwörtliche kleine Mann von der Straße: Er steht für alles gerade.

Eine der wesentlichen Quellen, aus denen sich unser westliches Demokratieverständnis speist, findet sich in der amerikanischen Unabhängigkeitsbewegung des späten 18. Jahrhunderts. Den damaligen Gründervätern war klar: „No taxation without representation!“ Anders gesagt: Ein Land wird nur dann von freien Bürgern (mit)regiert, wenn diese ihr Schicksal auch durch parlamentarische Repräsentation (mit)bestimmen können. Der kurze Satz hat seine Bedeutung weit über die dort thematisierte Steuerfrage hinaus.

In der Vorsilbe des Wortes von der „Re-Präsentation“ liegt nämlich bereits eine deutliche Mahnung an jeden, der als Repräsentant in einer Volksvertretung für andere tätig werden will. Sein gesamtes parlamentarisches Handeln erfordert eine stete Rückbesinnung auf das Wahlvolk. Ein Parlament kann nur dann ein getreuliches Abbild der von ihm vertretenen Gesellschaft sein, wenn deren Repräsentanten die Öffentlichkeit auch wahrhaftig, das heißt wirklichkeitsgetreu widerspiegeln. Sieht sich ein Volk in seinem Parlament nicht (mehr) abgebildet, sondern zeigt sich ihm dort ein Zerrbild der politischen Welt, dann droht – aller historischen Erfahrung nach – regelhaft Ungemach.

Theorie und Praxis der parlamentarischen Demokratie haben die Herausforderung erkannt, die in diese Vertreterkonstruktion unserer westlichen Staatswesen eingenäht ist. Ein Lösungsansatz, der im Gefolge der Französischen Revolution von der jungen Demokratie in Paris erdacht wurde, hört auf den Namen des „imperativen Mandates“. Im Kern bedeutet dieser Imperativ eine Art strikte Weisungsabhängigkeit des Gewählten innerhalb der Vertretungskörperschaft. Er darf dort stets nur genau das tun, was seine Wähler ihm auch konkret gestatten, andernfalls er sein Mandat verliert. Die schiere Unmöglichkeit, derartig permanente Rückversicherungen bei den Wählern in hochkomplexen Gesellschaften auch nur näherungsweise zu realisieren, hat diesen Lösungsansatz – aus guten Gründen – faktisch zunichte gemacht.

Einige Menschen sind gleicher: Politiker haften nicht und können auch nicht persönlich ersatzpflichtig gemacht werden, wenn sie vorsätzlich oder fahrlässig Schäden verursachen. Das ist schlecht und zu ändern. Im Bild Abgeordnete im Bundestag: für sie ein faktisch rechtsfreier Raum.

Wie aber kann eine substantielle Rück-Sicht des parlamentarischen Re-Präsentanten in dem beschriebenen Sinne sichergestellt werden, wenn dieser – in den Worten des Grundgesetzes – ein Vertreter des ganzen Volkes ist, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur seinem Gewissen unterworfen? Kann ein ausdrücklich nicht-imperatives Mandat des Abgeordneten seine nötige Loyalität gegenüber dem Wähler auf Dauer sicherstellen? Bietet insbesondere das – bekanntlich nicht justitiable – Gewissen des Mandatsträgers schon eine hinreichende Bindekraft an den Wählerwillen?

Üblicherweise wird ein Mensch zum vertretenden Bevollmächtigten eines anderen gemacht, wenn er dessen fremde Angelegenheiten besorgen soll. Naturgemäß erwartet der Vollmachtgeber dabei von seinem Vertreter regelhaft die nötige Kompetenz und Integrität. Rein tatsächlich wird man hier und heute aber wohl zweifeln dürfen, ob – vorsichtig gesprochen –ausnahmslos alle parlamentarischen Volksvertreter über die nötigen Kenntnisse und die wünschenswerte Verlässlichkeit in diesem Sinne verfügen, um ihre Wähler dergestalt angemessen in unserer hochkomplexen Welt zu repräsentieren. Wenn einem Abgeordneten aber schon das fachliche Wissen fehlt, bestimmte Entscheidungen sachangemessen treffen zu können, wie sollte dann alleine sein übergreifendes „Ge-Wissen“ die Wähler – merke: nicht justitiabel! – vor seiner Sorglosigkeit schützen?

Bekanntermaßen warnen derzeit überall in Europa etablierte Repräsentantenorganisationen (vulgo: Parteien) vor aufkeimender, „populistisch“ genannter Konkurrenz. Vielleicht ist dieser weithin eingeübte – und bislang zur Abwehr von Wettbewerbern noch überwiegend erfolgreiche – Kampf gegen politische Reaktion und Reaktionäre jedoch tatsächlich der Feldzug gegen eine Chimäre. Vielleicht geht es den Wählern, die ihren hergebrachten Parteien abtrünnig werden, gar nicht um politischen Ungehorsam, hin zum politisch Unkorrekten. Vielleicht sehen sie sich vielmehr durch die immer unübersehbarer werdenden Fehlentscheidungen ihrer Vertreter nicht mehr kompetent und integer repräsentiert. Wurden die Wähler beispielsweise gefragt, ob ihr nationales Parlament Souveränitätsrechte an die Europäische Union abgeben dürfe? Wurden sie gehört, ob ihre Währung oder gar ihr Staatsvolk inflationiert werden solle? Haben sie der völligen Überschuldung ihrer Staatshaushalte sehenden Auges und wissend vorab zugestimmt?

Wären deutsche Parlamentarier in Haftungsfragen einem üblichen öffentlich Bediensteten gleichgestellt, so würden sie dem Volk als ihrem obersten Dienstherren für die Folgen aus allen ihren sorgfaltswidrigen Amtspflichtverletzungen auf Schadensersatz haften. Einzig die ständige Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes (BGH) schützt sie derzeit noch vor derartigen Ersatzverpflichtungen. Denn der zuständige Haftungssenat dieses Gerichtes sieht Gesetzgebungstätigkeit als eine eher diffus-konturenlose Aufgabe gegenüber der Allgemeinheit an, der regelmäßig eine konkret fassbare Richtung auf bestimmte Personen und Personenkreise fehle. Deswegen können konkret geschädigte Personen ihre Gesetzgeber bislang auch noch nicht persönlich schadensersatzpflichtig machen (vgl. BGH III ZR 220/86).

Wie wahrscheinlich aber wäre es, dass fachlich inkompetente Parlamentarier auf Dauer in einem politischen Amt gesetzgebend Schaden anrichten, wenn Wähler sie persönlich ersatzpflichtig machen könnten? Wie wahrscheinlich wäre es, dass Abgeordnete überhaupt erstmals gewählt würden, wenn ihnen nicht gelänge, durch ihren vorherigen privaten Lebensweg unter Beweis zu stellen, wirtschaftlich verantwortlich handeln zu können? Wäre in diesem Falle nicht sogar umgekehrt wahrscheinlich, dass sich schon bald kompetente Personen mit abgeschlossener Ausbildung und Berufserfahrung bereitfänden, politische Aufgaben verantwortungsvoll wahrzunehmen? Würden Schaumschläger und Effekthascher, Windbeutel und Intrigenspinner nicht zügig ersetzt durch Menschen, die wissen, was sie tun?

Vor über zweitausend Jahren warnte Polybios bereits genau davor, dass eine Demokratie zur Ochlokratie verkomme, wenn das Wohl der Allgemeinheit durch Verantwortungslosigkeit einzelner aus dem Blick gerate. Auch hier erscheint ein Wort der näheren Betrachtung wert: „Verantwortung“. Bevollmächtigte übernehmen Ver-Antwortung. Auf die Antwort, die sie demnach schulden, wartet niemand sonst als der vertretene Vollmachtgeber mit seiner Frage, warum sein Vertreter so gehandelt hat, wie er es tat. Kurz: Jeden Re-Präsentanten trifft die Pflicht zur Ver-Antwortung! Ist der Bevollmächtigte jedoch von vornherein von jeder substantiellen persönlichen Haftung freigestellt, so kann nach aller menschlichen Erfahrung auch nicht erwartet werden, dass er sich sorgfältig verhält. Ein politischer Bevollmächtigter, den keine ernsthafte Verantwortung trifft, der lebt genau in derjenigen Unverbindlichkeit, die geradezu zwangsläufig in allgemeine Politikverdrossenheit mündet.

Es ist nach allem an der Zeit, dass wir den nächsten Entwicklungsschritt für unsere Demokratie gehen. Mehr Demokratie wagen heißt heute, juristische Verantwortung der Mandatsträger zu etablieren. Die Politik der Zukunft muss dem Recht unterworfen werden. Das bisherige Primat der Politik hat in die Irre geführt. Parlamente dürfen für Abgeordnete nicht ein faktisch rechtsfreier Raum zum gesellschaftlichen Experiment bleiben. Politiker müssen persönlich ersatzpflichtig gemacht werden können, wenn sie vorsätzlich oder fahrlässig Schäden verursachen.

Der einzelne Abgeordnete wird dadurch nicht mittels imperativen Mandates gelenkt, sondern in seiner Freiheit so an Sorgfalt gebunden wie jeder andere Vertreter auch. Was im Alltag richtig ist, kann im Parlament nicht falsch sein. Auch megalomane Entscheidungen werden auf diese Weise unmöglich. Was der einzelne Politiker mit seinen Kollegen und der Berufshaftpflichtversicherung aller nicht mehr verantworten kann, das wird er dann auch nicht mehr beschließen. Politische Entscheidungen gewinnen damit Menschenmaß. Sie entschleunigen sich, weil Sorgfalt vonnöten ist. Wer Gesetze beschließt, die er nicht gelesen und geistig durchdrungen hat, der wird dann auf Dauer nicht als Parlamentarier bestehen. Haftungsrecht ist originär Qualitätssicherungsrecht. Unbeherrschbare Zentralisierung endet zugunsten einer wieder überschaubaren und verantwortbaren Subsidiarität. Untätigkeit und der Versuch, drängende Probleme in die nächste Legislaturperiode auszusitzen, helfen dann nicht mehr, denn das Schadensersatzrecht kennt auch die Haftung für pflichtwidriges Unterlassen.

Schließlich füllt sich mit einer solchen wirklichen Verantwortlichkeit der Parlamentarier auch der grundgesetzliche Amtseid für Kanzler und Minister mit justitiabler Substanz, wenn sie versprechen, den Nutzen des Volkes zu mehren und Schaden von ihm zu wenden. Denn nicht eine rechtlich unverbindliche metaphysische Selbstverfluchung von Politikern, die auf ihr Gewissen schwören, schützt Bürger und Wähler vor politischen Schäden, sondern nur ein nötigenfalls einklagbarer und effektiv durchsetzbarer Schadensersatzanspruch gegen ihre Bevollmächtigten. Wie auch überall sonst in der Rechtsordnung eines modernen Staates.

Beitrag stammt aus dem Hauptstadtbrief 135

Carlos A. Gebauer ist Rechtsanwalt und Fachanwalt für Medizinrecht in Düsseldorf und Richter im Zweiten Senat des Anwaltsgerichtshofes NRW. Er ist Autor mehrerer Bücher und schreibt u.a. für die Frankfurter Allgemeine Zeitung, die Neue Juristische Wochenschrift, die Zeitschrift für Rechtspolitik. Für den HAUPTSTADTBRIEF begründet er, warum Parlamente für Abgeordnete nicht länger ein faktisch rechtsfreier Raum zum gesellschaftlichen Experiment bleiben dürfen.

Unser Autor Carlos A. Gebauer veröffentlichte im Februar 2016 sein neuestes Buch: Die Würde des Menschen im Gesundheitssystem. Fünf grundsätzliche Überlegungen zu Körper, Gesellschaft und Recht, erschienen im Lichtschlag Buchverlag, Grevenbroich. 72 Seiten, broschiert 13,90 Euro, Kindle-Edition 5,49 Euro. www.lichtschlag-buchverlag.de

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