Von Dennis Riehle
Als ich versehentlich vor kurzem den FDP-Bundesparteitag beim Zappen im Fernsehen erwischte, rätselte ich eine ganze Weile, was hinter Christian Lindner denn da auf der großen Leinwand stand. „Beta“ – hatten sie irgendwelche Buchstaben vergessen? Sollte das jetzt lustig sein? Und überhaupt: Ich verstand zunächst nur Bahnhof. Gut, aus meiner Ausbildung weiß ich, dass es marketingtechnisch gar nicht so falsch ist, wenn der Leser zunächst einmal über die Werbung nachdenkt und sich mit ihr auseinandersetzt. Doch irgendwie fiel es mir schwer – auch, als Herr Lindner dann zur Seite ging und der vollständige Spruch „Beta Republik Deutschland“ aufgetaucht war –, mit solch einem Slogan etwas anzufangen. Denn: Kurz innehalten und sich mit solch einer Botschaft zu beschäftigen, das ist gut. Aber sie nicht durchschauen zu können, spricht für Mängel. Und sie könnten nicht nur bei mir liegen, sondern vielleicht auch an den PR-Fachleuten der FDP, auf die die Teilnehmer des Parteitages offenkundig ziemlich stolz waren.
Die „heute-show“ fragte dann aber einmal genauer nach – und die Erklärungen, weshalb man eine Vokabel der Digitalisierung gewählt habe, blieben dürftig. Ebenso das Wissen darüber. Lindner schwurbelte dann etwas von „Vorbereitung“. Ich kam mir vor, wie im „Science-Fiction“-Film, „alles fertig machen zum Abflug in eine neue Zeitrechnung“. Offenbar hat den Liberalen die Auszeit nicht wirklich gut getan. Nicht nur, dass sie keiner mehr versteht, sie scheint von ihrem Neustart schon wieder derart überzeugt zu sein, dass die alte Überheblichkeit beinahe noch übertroffen wird. Und dass die FDP mit ihrem Christian Lindner nicht nur erneut als eine Ein-Mann-Partei, sondern mit ihrem „Beta“-Traum auch eine Ein-Themen Partei werden dürfte, ist doch eher bedenklich. Daneben: Auch inhaltlich hat sich so gar nichts geändert bei den Liberalen. Nun gut, vielleicht hatte man zu viel erwartet. Aber war der Schlag vor den Bug von 2013 nicht ausreichend genug, um zu erkennen, dass es nicht allein an uneingelösten Wahlversprechen lag, weshalb man nicht mehr in den Bundestag einzog?
Die Freien Demokraten reagieren regelmäßig allergisch darauf, wenn man sie als „Partei der Reichen“ bezeichnet. Doch entkräften kann sie die Vorhaltungen nicht, die offenbar mehr sind als nur ein böswilliges Klischee. Denn die Empfindung, wonach die FDP eine soziale Kälte verkörpert, haben auch die, die nicht verdächtig sind, aus dem streng linken Lager zu kommen. Von ihren Worten gegenüber den „SCHLECKER“-Frauen hat sich die Partei nie distanziert. Und den Eindruck, sie mache Lobby-Politik für die Hoteliers in diesem Land, konnte sie bisher auch nicht ausräumen – nur als Beispiel. Zwar möchten die Liberalen durch Leistung und Bildung jeden Einzelnen befähigen, sich selbst zum Millionär zu machen. Doch bei solchen Gedanken erinnere ich mich eher wieder an das Raumschiff der nächsten Generation als an eine Realpolitik, in der es eben auch Bürger gibt, die solche Ziele nicht erreichen können. Und das liegt nur bedingt daran, dass sie keinen Zugang zu Schule oder Kindergarten hatten, sondern an natürlichen Umständen und äußeren Gegebenheiten, die nur schwer veränderbar sind. Denn was ist das für ein Menschenbild, bei dem man davon ausgeht, dass mit ein bisschen Rückenwind plötzlich alles gelingt? Da lebt die FDP schon seit Jahren ihrer Zeit um Längen voraus, wenn sie einen perfektionierten Menschen als Objekt ihrer Politik annimmt, der mit einem kleinen Push geradlinig in die Gewinnzone aufsteigen kann. Nein, „Jeder ist seines Glückes Schmied“ ist keine Wirklichkeit, vielleicht ein schönes Sprichwort, aber mehr nicht.
Individualisierung schließe Solidarität nicht aus, meint die FDP. Nur vergessen die Liberalen dabei, dass es auch in absehbarer Zeit nicht möglich sein wird, gleiche Grundvoraussetzungen für Erfolg und Zukunftsperspektiven schaffen zu können. Denn ein solidarisches Handeln reduzieren die Freien Demokraten auf die Hilfe zur Selbsthilfe, wenn gar nichts Anderes mehr geht. Sie wendet sich eher denen zu, die schon auf der Karriereleiter sind. Die am Boden Liegenden speist sie mit Almosen ab. Anders kann man die Worte über Sozialhilfeempfänger, Arbeitslose und Bedürftige nicht verstehen, die immer wieder die Runde machen. Für die Schwachen fühlt sie sich nicht zuständig. Entweder klappt der Start in ein neues (Beta)-Leben 4.0 – oder man hat eben verloren. Die FDP kann sich im Zweifel zurückziehen, man habe doch Anschubleistungen bereitgestellt, wer daraus nicht selbst etwas macht, hat seine Chancen vertan. Wer verkennt, dass viele Menschen überhaupt nicht in der Lage sind, aus eigener Kraft zu handeln, auch wenn man die besten Bedingungen dafür vorhält, zeigt seine Ferne von der Wahrheit über die, die „unten“ angelangt sind, dort, wohin sich die Liberalen nicht bücken, wenn sie allemal so gern bei ihrer „Mittelschicht“ verharrt.
Ja, die FDP sieht den Menschen als ein Wesen, das sich frei entwickeln kann – und ist der Auffassung, dass dies besser gelingt, wenn sich der Start zurückhält. Zweifelsohne: Auch ich fühle mich mündig genug, um etwas aus meinem Leben zu machen – ohne, dass Mama Merkel mich bei jedem meiner Schritte begleitet. Doch Solidarität bedeutet eben manches Mal, bedingungslos unter die Arme zu greifen. Gesundheitlich Beeinträchtigte, Behinderte oder Menschen, die trotz Bemühen keinen Arbeitsplatz finden – eigentlich sollen auch sie laut FDP Unterstützung erhalten. Aber auch dort allein, um sie zu neuer Tatkraft zu befähigen. Wie der, der im Krankenhaus bereits zum 100-Meter-Lauf antrainiert wird. Ich werde den Verdacht nicht los, die Liberalen verwechseln Menschen mit Maschinen. Man muss sie ölen, reparieren und wieder neu aufziehen, dann funktionieren sie schon. Mit Mitmenschlichkeit hat so ein Weltbild wenig zu tun. Auch, als ich kürzlich mit Christian Lindner korrespondierte, ging es um das Gestalten, vor allem um Bildung. Manchmal braucht es aber keine Weiterqualifikation, unsinnige ALG II-Maßnahmen machen deutlich, dass man die gute Absicht nach mehr Wissen zweifelsohne ad absurdum führen kann. Ab und zu braucht es Umverteilung. Für Liberale ein schlimmes Wort, nimmt es doch ihrer Klientel den Wohlstand. Dabei ist es die vom FDP-Lobbyismus begünstigte Oberschicht, die nicht nur Mittel an sich bindet, deren Höhe über jegliche Moral hinausgeht. Die Massierung des Vermögens ist nicht gerecht und auch nicht das Ergebnis von Kraftanstrengung einzelner Unternehmer, sondern eine Vermehrung auf Kosten der Armen, die auch hierzulande die vielbeschworene Chancengleichheit für alle verhindert.
Würde man es ernst meinen mit der Freiheit, müsste die FDP die erste Partei sein, die die Gängelei für „Hartz IV“-Bezieher beendet, noch heute ein Grundeinkommen (kein Bürgergeld!) einführt, das persönliche Entwicklungsvielfalt erlaubt, und die es zulässt, dass im Staat der sozialen Marktwirtschaft wieder Regulation der Ökonomie zur Tagesordnung wird, um Investitionen in die Würde des gesamten Volkes zu finanzieren. Aber Hoffnungen habe ich nicht, dass sich vielleicht noch einmal die Freiburger Thesen durchsetzen könnten, mit denen es zumindest möglich war, koalitionsfähig zu bleiben. Im Augenblick schwelgt die FDP in einer neuen Ära aus Selbstverliebtheit, Worterfindungswahn und Abstraktheit ihrer wenigen Forderungen. Man könnte sie loben, weil sie tatsächlich eine der wenigen Parteien ist, die sich mit der Zukunft auseinandersetzt und das Zeitalter der Digitalisierung 4.0 mit seinen Folgen in den Fokus rückt. Doch was sie daraus macht, ist irritierend. Mit ihrer Fixierung auf Einzelthemen wird sie eher den Nischenparteien gerecht, nicht aber ihrem Anspruch, 2017 zurück auf das bundespolitische Parkett zu kehren. Vielleicht sollte man ihr raten, nochmals mit „Alpha“ zu beginnen…