Von Michael Klonovsky
Gestern morgen ist Ernst Nolte gestorben, „il principe die revisionisti“, wie La Repubblica ihm nachruft, wobei eine solche Titulatur nur sinnvoll ist, wenn die Betonung auf principe liegt – ein revisionistischer Historiker ist ja ein weißer Schimmel, Revision ist die erste Pflicht des Geschichtsbetrachters, und wer anderes behauptet, hat Interessen. Nolte stach aus der Schar deutscher Nachkriegshistoriker vor allem deshalb hervor, weil er ein Geschichtsdenker und Gelehrter alten Schlags, vor allem aber ein freier Kopf war, der sich keiner Schule, keinem Klüngel, keiner Ideologie verpflichtet fühlte, sondern die historischen Phänomene nach bestem Wissen und Gewissen betrachtete und Verbindungen zwischen ihnen mehr herauszufinden denn herzustellen suchte. Außerdem war er angstfrei; der intellektuelle Terror, der seit dem sogenannten Historikerstreit 1986/87 über ihn hereinbrach, dieser peinlichen Lakaiendebatte mit a priori feststehendem Resultat, und mit seiner Ausstoßung aus der Zunft endete, hat ihn nicht beirren können, weiter seine Fragen zu stellen und nach Antworten zu suchen. Er war ein skurriler Spätling der abendländischen Metaphysik, der sich in den Gesinnungsbetrieb der westdeutschen Nachkriegs-Historiographie verirrt hatte, deren Zeloten im Besiegtsein und Gerlernthaben wetteiferten und sich von der geistigen Unabhängigkeit des „einsamen Wolfes“ (Walter Laqueur) in ihrem Selbstverständnis als Konsensvollstrecker der Vergangenheitsbewältigung herausgefordert fühlten. Nur wenige waren stolz genug, nicht ihr Stück Holz zum Scheiterhaufen beizusteuern, was den Erforscher der Nazipsyche immerhin amüsiert haben mag. Die Hetze ging so weit, dass man einen Mann, der sein halbes Leben der Frage widmete, warum Auschwitz möglich war, in die Nähe der Holocaust-Leugner rückte, und in Erinnerung bewahrt zu werden verdient, dass sich der Berliner Geschichtsprofessor Paul Nolte in offenbar habitueller Tendenzbefolgungsbeflissenheit öffentlich für die Namensverwandtschaft mit dem verfemten Kollegen zu schämen vorgab. Wofür sich zu schämen ihm noch ein paar Sündenjährchen Zeit bleiben.
Der philosophische Schriftsteller Frank Lisson hat übrigens eine treffende Charakterisierung des Unterschieds zwischen den beiden Noltes geliefert: „Der eine steht geistig über den Dingen, der andere mittendrin. Der eine denkt wesentlich, der andere praktisch. Der eine will abstrakt der ‚Wahrheit’ dienen, der andere konkret dem gesellschaftlichen Betrieb, der ihn trägt. Der eine ist tiefgründig, der andere schlau. Der eine ist alt und kantig, der andere jung und glatt. Der eine ist ‚umstritten’, der andere ‚gefragt’.“
Wie die Nolens-volens-Nachrufe in einigen über lange Jahre Scheiterhaufen-affinen Medien zeigen, scheint bis heute in einschlägigen ideologischen Zirkeln niemand zu bemerken, was für eine geistige (und übrigens auch moralische) Bankrotterklärung die Formel von der Singularität des Holocaust – und daran anschließend der Narrenvorwurf seiner „Relativierung“ – eigentlich bedeuten. Singulär ist jede Schneeflocke, und was wäre wohl das Gegenteil von „Relativieren“? Hat je ein Auschwitz-Überlebender geäußert, Workuta sei weniger schlimm gewesen? Allein mit diesem Begriff erklärt die Aufklärung ihren Bankrott und übergibt der Inquisition das Terrain.
Das beste Argument, das man gegen Nolte ins Feld führen kann, lässt sich in die Sentenz kleiden, dass bei einem Streit unter Historikern derjenige am meisten recht hat (wirklich recht hat ja nie einer), der für ein historisches Ereignis die meisten Ursachen anzubieten weiß. Nolte mag sich in eine tendenziell allzu monokausale Deutung der NS-Bewegung als Anti-Marximus verrannt haben. Geistig befruchtend wirken seine Bücher allemal. Noltes Interpretation des Nationalsozialismus als – unter anderem – Widerstandsbewegung gegen das, was er als „Transzendenz“ bezeichnet, die Veränderung der Conditio humana durch den technischen und gesellschaftlichen Progress bis hin zum globalen Einheitsmenschen und zum womöglichen Verlassen des Planeten, ist geistreich und bedenkenswert. Seine zentrale These, dass die mörderische Energie der Nationalsozialisten ohne die bolschewistischen Vorgänger nicht zu verstehen sei, der berühmt-berüchtigte „kausale Nexus“ zwischen Gulag und Auschwitz, ist wiederum so originell nicht; es galt zumindest in der marxistisch-leninistischen Klippschule als Gemeinplatz, dass der „Faschismus“ als äußerste Reaktion der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft auf den Siegeszug des Kommunismus entstanden sei, Nolte hat diese These nur zugespitzt. Noch aus Himmlers Posener Rede spricht der Respekt des NS-Obervernichters angesichts des bolschewistischen Vernichtungswillens, und in Jonathan Littels Jahrhundertroman „Die Wohlmeinenden“ findet sich ein Dialog zwischen einem SS-Vernehmer und einem gefangenen sowjetischen Kommissar (S. 548 bis 562), der sich wie angewandter Nolte oder eben wie stattgehabte Realität liest und in dem Satz des Kommunisten gipfelt: „Für mich ist der Nationalsozialismus eine Häresie des Marxismus.“ Nolte führt dem Leser als Wissenschafter wie Littell als Romanautor die unglaubliche Energie vor Augen, die „Der europäische Bürgerkrieg“ (so der Titel von Noltes bestem und bleibendem Opus) freigesetzt und verschlungen hat, man ist wie erschlagen nach diesen Werken und beginnt zu begreifen, was dieser Kontinent an Kräften entfaltet und zugleich verloren hat und warum er heute sturmreif ist. Nolte wusste es. Noch im hohen Alter hat er sich der Ergründung der „dritten radikalen Widerstandsbewegung“ gegen das westliche liberale (oder liberalistische) System zugewandt, dem Islamismus.
Im irrlichternden Finale seines Buchs „Streitpunkte“ (1993) schrieb Nolte Sätze, die einem heute die untergründige Verwandtschaft zwischen den Nazis und den Dschihadisten verdeutlichen: „Was Hitler letzten Endes aufzuhalten und zu beseitigen versuchte, war (…) der Prozeß der ‚Intellektualisierung der Welt‘, das immer stärkere Hervortreten der ratio von Individuen und der damit verbundenen Komplizierungen, Undurchsichtigkeiten, ‚Unnatürlichkeiten‘, die nichts Geringeres als die Herrschaft der ‚grausamen Königin aller Weisheit‘, der Natur, und damit die Entfaltung des wahren Lebens kriegerischer Tapferkeit und weiblicher Fruchtbarkeit zerstören. (…) Was Hitler im Interesse des ‚Lebens‘ zum Stehen und Abbrechen bringen wollte, indem er die angeblichen Urheber vernichtete, war nichts anderes als das Nicht-bloß-Lebensmäßige im Menschen, die Transzendenz, die im ‚Intellekt‘ ihre greifbarste Erscheinungsform hat und die den Menschen ins völlig Unbekannte und Undurchschaubare zu treiben vermag, vielleicht bis zum Verlassen der Erde und bis zur Alterslosigkeit. Hier erst darf möglicherweise vom ‚absoluten Bösen‘ gesprochen werden, welches das Wesen des Menschen verneint, indem es dessen herausragendsten Repräsentanten tötet. Kein ‚Intellektueller‘ kann daran zweifeln, wie er urteilen soll, da er in den Juden sein eigenstes Wesen verworfen sieht.“
Nolte wollte immer ergründen, warum Geschichte so und nicht anders geschehen ist, und dass er dabei nüchtern und neutral blieb und die üblichen Verurteilungsrituale für überflüssig hielt, lieferte seinen moralisierenden Kritikern die wohlfeile Gelegenheit, ihm „Verständnis“ vorzuwerfen, wo er nur zu verstehen suchte. Er blieb unbestechlich und irrtumsbereit, er lebte ausgestoßen, aber geistig unbestechlich. Nie hat er jemanden denunziert. Und, nicht nur am Rande: Er konnte schreiben. Ruhe in Frieden, alter Wolf!
PS: Ich habe Nolte zweimal, 1995 und 1998, zum Interview getroffen; wer mag, kann es hier und hiernachlesen.