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Direkte Idiotie

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Von Konrad Kustos

Demokratie kennt keine Abkürzungen
Ginge es nach dem Kanton Appenzell, gäbe es dort noch immer kein Frauenstimmrecht. Das entsprechende Referendum der (ausschließlich männlichen?) Appenzeller wurde aber zu Recht oder zu Unrecht vom Schweizer Bundesgericht gekippt. So geht es eben mit den Voten der Bevölkerung, wenn die wirkliche Macht andere Vorstellung hat. Die Erkenntnis, Volksentscheide hätten wohl eher einen kosmetischen Charakter, teilen deshalb wohl auch die Leser von Konrad Kustos, denn Posts, die sich mit Plebisziten auseinandersetzen, haben auf diesem Blog die schlechteste Einschaltquote überhaupt. Doch so lapidar ist das Ganze nicht, denn hinter der Frage, ob das Volk sich besser durch eine parlamentarische Demokratie oder durch Volksabstimmungen gängeln lässt, versteckt sich auch die Auseinandersetzung, wie in Zeiten des Niedergangs die Demokratie überhaupt verteidigt werden könnte. Und da müssen wir alle aus Eigeninteresse dranbleiben, auch wenn es derzeit in jeder Hinsicht düster aussieht.

Immerhin machen es die technischen Bedingungen bald möglich, relativ einfach, gegebenenfalls auch von zuhause, die gesellschaftliche Summe persönlicher Vorlieben zu erfassen. Eine Computer- oder Internet-Demokratie wird dadurch machbar, also sollte man rechtzeitig wissen, ob man sie will oder nicht. Bisher stehen sich nicht nur zwei Gedankenmodelle unversöhnlich gegenüber, sondern auch noch eine Menge Fragen im Raum. Und da, wo argumentiert wird, zeigt sich, dass in den Köpfen zu diesem Thema eine heillose Unordnung besteht.
Die Befürworter von Referenden loben das Musterland Schweiz (s.o.), wo regelmäßig das Volk zur Mitbestimmung aufgerufen ist, und suggerieren, dort sei alles viel besser. Eigentlich wäre das ja angesichts der in Wirklichkeit eher unerfreulichen schweizerischen Realitäten schon ein klassischer Gegenbeweis, aber so einfach wollen wir es uns nicht machen. Irritierend ist es aber zu lesen, dass dort sogar Volksschul-Lehrkräfte direkt vom Volk gewählt werden. Was macht da der arme, wenn auch hochqualifizierte Lehrer, wenn dem örtlichen Volk seine Nase nicht gefällt? Vielleicht sogar, weil er anspruchsvoll unterrichtet? Schleimt er sich dann auf Teufel komm raus bei wahlberechtigten Eltern ein? Ist so etwas dann hilfreich für sein pädagogisches Konzept?
Auf einer eher abstrakten Ebene haben die Volksentscheidsbefürworter durchaus einige Argumente auf ihrer Seite. So ist die Bestechung führender Politiker oder die Ausnutzung von persönlichen Beziehungen bei der direkten Demokratie schwieriger anzusetzen. Das betrifft auch Lobbyisten und vergleichbare Interessengruppen, die manchmal sogar legal auf gewählte Entscheidungsträger manipulierend Einfluss nehmen.
Interessant ist auf alle Fälle die Idee von Volksabstimmungen bei elementaren Fragen, z.B. vor einer Kriegsbeteiligung, beim Beitritt zu oder Austritt von Bündnissen („Brexit“), die eine Aufgabe der nationalen Souveränität bedeuten, und sicher auch bei der Einwanderungspolitik. Doch sobald man in den Bereich der Partikularinteressen kommt, wird es schwierig. Darf eine Mehrheit über die Interessen einer (vielleicht großen) Minderheit hinweg oder sogar dagegen abstimmen? Sind die Wähler überhaupt repräsentativ für das Volk? Ist eine solche Initiative in der Lage, Kompromisse zu formulieren, aus Erfahrungen zu lernen und persönliche Vorteile im Interesse des Gemeinwohls hintenanzustellen? Will sie nur offensichtliche Egoismen, die aber gerade im Trend liegen, umsetzen?
Wird also beispielsweise jemand eher für (teure) Grundlagenforschung stimmen oder doch lieber für verbilligte Fernseher? Wird die Mehrheit sich gegen Arbeitslosigkeit einsetzen, wenn sie doch zumeist (noch) einen Job hat? Kann das Volk beurteilen, ob genug Geld für bestimmte Maßnahmen zur Verfügung steht oder wem dieses Geld für die gerade abzustimmende Maßnahme weggenommen werden soll? Wie würden beispielsweise die Amerikaner darüber abstimmen, ob Gott die Welt bis in die letzte Zelle selbst kreiert hat und ob dies zur in der Schule gelehrten Doktrin werden soll? Und wann werden wir Deutschen mehrheitlich abstimmen, dass Allah die Welt geschaffen hat?
Die besten Argumente für Volksentscheide liefern immer noch, wenn auch indirekt, deren Kritiker. Direktdemokratische Verfahren störten die demokratischen Abläufe, indem sie wesentlich mehr Zeit benötigen, heißt es. Des Weiteren sei es möglich, neue Parteien zu gründen, falls man mit keiner der vorhandenen zufrieden sei. Wenn das die besten Gegenargumente sind, muss man im Umkehrschluss eigentlich für solche Referenden sein, denn für wichtige Dinge muss man sich eben manchmal Zeit nehmen, und wie schnell neue, „kritische“ Parteien vom Mainstream assimiliert werden, ist inzwischen hinlänglich bekannt.
Dummerweise führen auch die Referendisten Argumente ins Feld – und reden sich dabei um Kopf und Kragen. Mit derlei Abstimmungen würden die Gründe für politische Entscheidungen dem Bürger vermittelt, was zu einer höheren Zufriedenheit und einer höheren Beteiligung führe. Will man sich damit bloß anbiedern oder ist man tatsächlich so systemkonform? Plebiszite zur Befriedung des Wählers? Vermutlich ist man einfach nur blauäugig. Zu den konkreten Zwängen, die gerechte Ergebnisse in solchen Abstimmungsverfahren praktisch unmöglich machen, wurde hier schon an anderer Stellegeschrieben und wird am Beispiel des anstehenden Radvolksentscheids in Berlin in Kürze noch geschrieben werden – diesmal soll es nun etwas philosophischer um die kognitiven Hintergründe gehen.
Wenn profundes Wissen eine Voraussetzung dafür ist, sich zu einer konkreten, partikulären Sache zu äußern, wird die Luft für Volksentscheide nämlich schon dünn. Zum einen ist dafür eine Informationsmöglichkeit, -willigkeit und -fähigkeit erforderlich, ein Dreiklang, der wohl in der Regel gleich dreimal verneint werden muss. Zum anderen erfordert eine ausgewogene Entscheidung ein Abwägen der Vor- und Nachteile und damit eine gewisse emotionale Distanz.
Vor allem aber erfordert es eine gewisse Demut angesichts der Komplexität selbst kleinerer Fragestellungen und deren Einbindung in größere Zusammenhänge. Daran scheitern dann meist genau jene, die über eine gute Grundbildung verfügen und scheinbar die qualifiziertesten Mitentscheider sind. Diese Bevölkerungsgruppe wird durch ein zu großes Selbstbewusstsein dazu verführt, diese Demut durch Arroganz, Virtualität, Verbissenheit und Ideologie zu ersetzen. Ein Phänomen, das natürlich nicht nur die Volksentscheidsfrage betrifft, sondern ein Kardinalproblem der entwickelten (Niedergangs-)Gesellschaft ist.
Jede parlamentardemokratische Wahl ist problematisch an sich, immer unbefriedigend, aber sie hat bewiesen, einen gewissen Interessensausgleich zu gewährleisten und Verwaltungskompetenzen zu berücksichtigen. Man setzt ansonsten auf die Kraft der Großen Zahl und leugnet notgedrungen qualitative und quantitative Differenzierungen. Ein Volksentscheid jedoch reduziert komplizierte Sachfragen nun auch noch auf ein „Ja-Nein-Schema“. Das ist dann eine politische Differenzierungsqualität, die eigentlich mit dem Mittelalter ausgestorben schien.
So lässt die Hoffnung, über Volksentscheide die schwindende Demokratie retten zu können, die Vernunft in den Hintergrund treten. Die Leute merken, dass es so, wie es läuft, nicht gut läuft. Man sehnt sich nach Alternativen, die demokratische Abläufe wiederherstellen. Man stürzt sich deshalb auf jede erkennbare Alternative, noch dazu, wenn sie zu versprechen scheint, dass das Volk dadurch mehr mitreden könnte. Die Verfechter der Direkten Demokratie glauben, dass die Dinge bei irgendeiner Änderung des Procederes bei Detailproblemen besser werden. Das ist natürlich kein Argument, denn, wie man weiß, kann es immer auch noch schlechter werden, erst recht, wenn die Folgen nicht bedacht werden (können).
Wenn die kybernetische Vernunft bei der Entscheidungsfindung nur dergestalt in den Hintergrund tritt, mag selbst das noch erträglich scheinen, doch wenn sie ins Absurde verbogen wird, mehren sich die Probleme. Dann ist der Weg nicht mehr weit von der Direkten Demokratie zur Direkten Idiotie. Etwa wenn man glaubt, aus der Tatsache, dass Politiker bestechbar sind, schließen zu können, bei Volksabstimmungen gäbe es weniger Manipulation. Als wenn es nur eine Sorte der Manipulation gäbe! Aus der Tatsache, dass die Politik immer freier von jeder Rückkopplung mit den Interessen der Bevölkerung agiert, wird von Direktdemokraten geschlossen, diese Rückkopplung sei mit Volksentscheiden wiederherzustellen. Als wenn die Politiker und ihre Hintermänner*frauen, die heute aus gutem oder besser schlechtem Grund an den Schaltstellen sitzen, ihre Rolle als Gegner des Volkes dadurch verlören! Als wenn es ihnen nicht ein Leichtes wäre, in kürzester Zeit solche Abstimmungen ins Instrumentarium ihrer manipulativen Macht einzubauen. Wozu speisen sie denn sonst die Quellen der Information und leiten die Mechanismen des Staates?
Der Bevölkerung der Schweiz wird aufgrund ihrer häufigen Beteiligung an Referenden unterstellt, sie habe dadurch ein größeres Interesse an der Politik gewonnen. Als wenn ein solches Interesse in jedem Falle einen Hinweis auf die Qualität der Meinungsbildung und deren tatsächliche Gestaltungskraft geben könnte! Die jüngste deutsche Geschichte lehrt, dass ein solches Interesse keineswegs eine Zunahme von ideologiefreien Entscheidungen einschließt – im Gegenteil: In einer hochpolitisierten und ideologisierten Gesellschaft versuchen immer mehr Menschen unter Verlust ihres eigenen intuitiven Rechts- und Sachverständnisses, bestimmten, sich möglichst erfolgreichen und imagefördernden ideologischen Lagern zuzuordnen.
Die Befürworter sagen, es gelte, „die Demokratie an die sich wandelnden gesellschaftlichen Verhältnisse anzupassen und über Wahlen hinaus durch direkte Demokratie und Bürgerbeteiligung weitere Instrumente der demokratischen Teilhabe zu schaffen. Voraussetzung für eine stabile Demokratie sind also nicht ‚gute’ Lösungen, sondern vielmehr, dass die Strukturen zur Entscheidungsfindung selbst von einer Mehrheit der (abstimmenden!) Bevölkerung für legitim befunden werden.“ Das ist zwar ein letztlich durchaus kybernetischer Ansatz, doch ist er erstens nur ein tautologischer Glaubenssatz und ignoriert zweitens, dass so Illusionen der Partizipation geschaffen werden, die letztlich das Herrschaftssystem des Niedergangs stabilisiert statt es zu reformieren.
Das Ergebnis ist dann sogar eine Verdopplung der negativen Parameter. Die Herrschaft erhält einerseits dadurch mehr Glaubwürdigkeit und somit Stabilität und öffnet zusätzlich Fehlentscheidungen Tür und Tor. Populisten können beispielsweise mit falschen Versprechungen die Massen hinter sich bringen. Es können wirtschaftlich, politisch und moralisch fragwürdige Entscheidungen am sonstigen gesellschaftlichen Konsens vorbei getroffen werden. Man denke nur an die in dem Zusammenhang immer wieder genannte Befürchtungen hinsichtlich der Todesstrafe, Abtreibungsverboten, der Aufhebung der Trennung von Kirche und Staat usw.

Gefährlicher sind derzeit wohl sogar eher moderne Verirrungen wie die gerade in Berlin drohende Chaotisierung des gesamten Stadtverkehrs durch eine per Abstimmung sanktionierte partikuläre Begünstigung von Radfahrern. Vorteile für die bisher durch den Autoverkehr offensichtlich benachteiligten Radfahrer zu schaffen scheint ein praktisch und moralisch gleichermaßen erstrebenswertes Ziel zu sein, weshalb auch die allgemeine Sympathie diesem Volksentscheid geradezu zufliegt. Doch tut sie dies zu unrecht, wie ja hier in Kürze noch am praktischen Beispiel belegt werden wird.

In einer drohenden Zwitterlösung von parlamentarischer Demokratie und Volksentscheiden müssen sich die Politiker und ihr Apparat weiter darum kümmern, dass das große Staatsgetriebe irgendwie funktioniert und dass gleichzeitig die Interessen ihrer postkapitalistischen Auftraggeber bedient werden. Treten ihnen jetzt die Direkt-Demokraten von hinten in die Beine, ändert sich am Endergebnis ihrer Politik nicht viel, außer dass sie einen zusätzlichen Schuldigen für das eigene Versagen hätten. Und ganz offensichtlich würden mit Volksentscheiden die eher unschön so bezeichneten konzerngesteuerten NGOs, also die Sachwalter der eigentlichen Entscheidungsträger, ein zusätzliches Einfallstor in den Staatsapparat finden und die Gewaltenteilung eines Landes austricksen können.
Wer beherrscht denn die Information, die für eine Entscheidungsfindung der Bevölkerung die entscheidende Grundlage ist? Wer kann am besten demagogische Kräfte entfesseln? Wer kann dafür sorgen, dass Quoren erfüllt und getroffene Entscheidungen auch umgesetzt werden? Und wer kann am besten verhindern, dass ungewollte Änderungen möglich oder überhaupt abstimmungsfähig werden? Das Großkapital, egal ob die Filialen nun Bertelsmann, DIHT, EZB oder IWF heißen, und dessen Absichten sind spätestens seit dem Zerfall des Sozialismus keine demokratischen mehr.
Das war nun eine zugegebenermaßen insofern destruktive Analyse, als sie nur beschreibt, was nicht geht, ohne Alternativen zu nennen. Ein Problem, auf das man in der Niedergangsgesellschaft immer wieder trifft, denn zum mittelfristigen Zusammenbruch des Systems kann es, wie in meinem Buch „Chaos mit System“ beschrieben, nach bisherigem Ermessen auch gar keine adäquate Alternative geben. Es wird jedenfalls nicht gehen, ohne eine Befreiung unseres Denkens von seinen verkürzenden Strukturen. Die Direkte Demokratie ist genau das Gegenteil: ein kontraproduktiver Versuch, eine Abkürzung bei der nötigen Wirklichkeitsbewältigung zu nehmen.

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