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Im Camp der Illusionen

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Tausende campieren in Calais in Dreck und Elend, um irgendwie nach Großbritannien zu gelangen

Von Thilo Gehrke

Tausende Menschen harren vor dem Eurotunnel in Calais aus und hoffen, einen Weg nach Großbritannien zu finden. Für die meisten „Migranten“ ist das „Dschungel“ genannte wilde Lager Endstation ihrer Reise. PAZ-Autor Thilo Gehrke ist dort gewesen und schildert seine erschütternden Eindrücke von einer „Dritten Welt an der Kanalküste“.

Sobald in Calais die Dämmerung einsetzt, beleben sich die im Herbst leeren Straßen des kleinen Städtchens an der französischen Kanalküste. Gruppen junger Afrikaner und Araber bewegen sich in Richtung des Eurotunnels. Sie hoffen auf eine Möglichkeit, illegal und unter Lebensgefahr in einem Güterzug oder Lastkraftwagen nach Großbritannien einzureisen, einem Land, in dem in ihren Träumen Milch und Honig fließen. Eurotunnel und Fährhafen sind gesichert wie einst die DDR-Grenze.
Jede Nacht wiederholt sich dasselbe Katz-und-Maus-Spiel, Heerscharen von Polizei und Grenzschutz versuchen, den illegalen Grenzübertritt der Verzweifelten zu verhindern. Sobald die Straße die Stadt verlässt, belebt sich das Buschwerk, sobald sie mich sehen, tauchen sie ab in das Dick­icht dichter Dornenbüsche. Sind sie nicht die dringend benötigten „migrantischen“ Fachkräfte, von denen unsere Medien und führenden Politiker immerfort fabulieren? Könnte es nicht sein, dass diese jungen Männer in ihren Heimatländern und Familien viel dringender gebraucht werden? Gern habe ich mich somit eingeladen gefühlt, im dortigen Asylsuchendenlager die bunte kulturelle Vielfalt und bereichernde Begegnungen mit diesen abenteuerlustigen Menschen zu suchen.
Was ich dort sah, spottet jeder politisch korrekten Beschreibung. Es ist eine Dritte Welt an der Kanalküste, weit vor den Toren der Stadt im Niemandsland zwischen versteppten Dünen und Industrieanlagen. Der Weg dorthin gleicht einer Schnitzeljagd. Im von der Polizei schwer gesicherten Rathaus von Calais wollte man nichts von einem Flüchtlingslager wissen, zu beschämend schien meine Frage zu sein. Emotional aufgeladen beklagte sich ein anderer Mitarbeiter über die vielen Ausländer, die tagsüber auf den Straßen und Parks der Stadt herumlungerten, die Touristen verschreckten und Frauen belästigten. Die aggressive Stimmung vieler zunehmend fordernd auftretender „Migranten“ hat sich längst auf die verängstigten Bürger übertragen, handfeste Auseinandersetzungen gab es schon mehrfach. Die Kriminalität stieg messbar an. „Der Staat lässt uns hier mit diesen Problemen alleine. Wir müssen uns schützen“, seufzt der Mann. Natacha Bouchard, die Bürgermeisterin, schenkte den Zuwanderern im Januar dieses Lager, das alle nur „Dschungel“ nennen. Dutzende Lager, die vorher über die ganze Stadt verteilt waren, sind nun hier vereint, auf einer alten Mülldeponie neben der Chemiefabrik. Nun fordert sie 50 Millionen Euro Entschädigung von den Briten, sie scheinen für alle die Schuldigen an dieser Misere zu sein, da sie die Immigranten nicht willkommen heißen wollen. „Es ist ein Zustand wie im Krieg“, sagt der Rathausbeamte. Doch es ist ein Krieg, in dem es nur Verlierer gibt. Obwohl die Regierung in Paris über die unhaltbaren Zustände in Calais im Bilde ist und der „Dschungel“ wiederholt zur Chefsache erklärt wurde, ändert sich nichts.
Für den Abend ist ein Marsch der Immigranten mit Demonstration für eine menschenwürdige Unterbringung vor dem Rathaus angekündigt. So folge ich instinktiv den Menschen fremdländischen Aussehens, und je dunkler deren Hautfarbe wird, desto näher wähne ich mich am Ziel. Schon von Weitem umschließt mich ein fauliger Geruch. Auf einer Brücke stehen Polizeifahrzeuge mit Überwachungstechnik, dahinter erstreckt sich eine bunte Campingzeltstadt inmitten schwelender Müllberge unter einer toxischen Dunstglocke. Der Regen der letzten Tage hat die Wege in eine Schlammwüste verwandelt, viele Zelte und Kartonhütten sind zusammengebrochen. Es ist ein Transit-Elendsquartier, in dem über 6000 Menschen jenseits jeglicher zivilisatorischer und staatlicher Unterstützung eines besseren Lebens harren. Es gibt weder Strom noch fließendes Wasser in dieser Einöde.
Gleich am Eingang fungiert eine Hütte als eine Art Wache. Ich erkenne junge Frauen und Männer mit heller Haut und Rastazöpfen, vielleicht sollen sie kritische Beobachter oder gar Polizisten abfangen. Ich folge dem Trampelpfad und sehe sogar einige verschleierte Frauen, sie verziehen sich schnell in die Unsichtbarkeit ihrer Behausungen. Zwischen schwelendem Plastik und Klamottenbergen werde ich unfreiwillig Zeuge menschlicher Verrichtungen, denn es gibt nur eine Handvoll Plumpsklos und Wasserstellen. Dabei bemühen sich einige Nichtregierungsorganisationen (NGO) um eine Verbesserung der Bedingungen. Es gibt Spuren einer Versorgungsinfrastruktur, eine primitive Krankenstation, Moscheen und sogar eine Kirche. Angesichts der fehlenden Weiterreisemöglichkeiten über den Kanal nach England ist hier das Ende einer Sackgasse. Auch die NGO sind hier überfordert. Der bevorstehende Winter, die Abschottung der Kommune und auch die Zögerlichkeit europäischer Asylpolitik lassen eine humanitäre Katastrophe in naher Zukunft unausweichlich erscheinen. Nicht weit entfernt steht in Calais ein riesiges Krankenhaus leer.
Ich schiebe den Vorhang zur Seite, der den Eingang eines großen Zeltes mit arabischen Schriftzeichen und der Flagge des Sudan verdeckt. Um die 50 Afrikaner dösen auf schmutzigen Matratzen vor sich hin, der Geruch ungewaschener Leiber lässt mich zurück-weichen. Es ist später Nachmittag, vor seiner Behausung begrüßt mich ein junger Araber, ich soll ihm in sein Zelt folgen. Dort sitzen drei Männer um einen Topf mit Reis auf dem Boden, zwei weitere schlafen im hinteren Teil. Beim Essen kommen wir rasch ins Gespräch. Der Araber spricht ein wenig Englisch, stellt sich als Muhammad vor, sei verfolgter Christ aus Oman und wolle sich nach London durchschlagen, wo Verwandte von ihm wohnten. In seiner Heimat hat er Rosen geerntet, die dann zu Rosenwasser verarbeitet wurden. Heute, sobald es dunkel wird, wird er es wieder versuchen. Er zeigt mir eine lange Narbe am linken Unterarm, eine Verletzung vom Grenzzaun am Eurotunnel. Sechsmal hätten die Polizisten ihn schon erwischt und zurückgeschickt.
Mein Sitznachbar Mallaku aus Eritrea ist 26 Jahre alt, hat als Farmer bei der Armee gearbeitet und spricht Arabisch. Ihn störte die Unfreiheit im diktatorischen System Eritreas. Frau und Kinder warten noch in seiner Heimat, übersetzt Muhammad. Er ist seit sieben Monaten auf der Reise: Äthiopien, Sudan, Libyen, Italien, seit einem Monat ist er im „Dschungel“, der „Zwischenhölle“. Für ihn ist es eine Prüfung, die Gott ihm abverlangt auf dem Weg ins Paradies. Sobald er den großen Sprung in die britische Verheißung geschafft hat, will er seine achtköpfige Familie nachholen. Als die Männer erfahren, dass ich aus Hamburg komme, beginnen ihre Augen zu leuchten. Mallaku lässt fragen, ob ich ihn nicht mitnehmen könne. Im Internet hat er erfahren, dass die „deutsche Präsidentin Merkel“ alle Flüchtlinge eingeladen hat. Er weiß, dass es in Deutschland schon viele Eritreer gibt, sogar die Familie kann man nachholen. Der Austausch mit der Familie, der Flüchtlingsgemeinschaft und deren Unterstützern läuft über moderne Smartphones.
Als ich das Zelt verlasse, drängen sich Dutzende vor einem lärmenden NGO-Notstromaggregat. Im Lager gibt es feste Strom-Zeiten, um die Akkus der Handys zu laden. Im Gegensatz zu den Moschee-Hütten, in denen mehrmals täglich Allah verehrt wird, ist die einzige Hütte mit angedeutetem Kirchturm verwaist. Auf der schlammigen Hauptstraße werden aus einem Kleinlaster heraus neue Hosen verteilt. Es hat sich bereits eine lange Schlange gebildet. Unter den wartenden Männern herrscht Unmut, denn einige haben sich schon zum zweiten Mal angestellt. Die jugendlichen Helfer bemühen sich, die Disziplin unter den Wartenden zu wahren. Sally aus Canterbury hat wache Augen, viel Metall im Gesicht und filzige rötliche lange Haare. Die Studentin kommt wöchentlich über den Ärmelkanal um zu helfen und findet es rassistisch, wenn Menschen aufgrund ihrer Herkunft nicht nach England kommen dürfen. Sie träumt von einer Welt ohne Grenzen, Gesetze und Polizei…

Foto: Thilo Gehrke

Weiterlesen: http://www.preussische-allgemeine.de/nachrichten/artikel/im-camp-der-illusionen.html

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