Von Christian Ortner
Vermutlich haben wir den Amerikanern noch immer nicht verziehen, dass sie uns 1945 von den Nazis befreit haben. Anders lässt sich kaum erklären, dass eine gediegene Portion Hass auf Amerika als verlässliche Konstante durch die öffentliche wie die veröffentlichte Meinung in diesem Lande wabert – relativ unabhängig davon, was Sache ist. Flüchtlingskrise? Verursacht von den „Ölkriegen“ der USA natürlich. Eurokrise? US-Komplott zur Schwächung unserer Wirtschaft natürlich. Ukrainekrise? Folge des US-Imperialismus natürlich. Kein Problem im bewohnbaren Teil der Welt also, das nach dieser Denke nicht irgendwie den Amerikanern in die Schuhe geschoben werden kann.
Ein Vorwurf, der zum Standardrepertoire des gehobenen Antiamerikanismus gehört wie Ketchup zum Burger: Die Amerikaner verbünden sich ungeniert mit jedem Verbrecher-Regime dieser Welt, wenn es nur ihrem eigenen Vorteil dient. Nach dem bewährten Motto: „He is a bastard, but he is our bastard.“ Im Gegensatz zu den meisten antiamerikanischen Stereotypen ist an diesem Vorwurf einiges dran. Die lange Liste jener Diktatoren, Gewaltherrscher und Leuteschinder, mit denen sich die USA im Laufe ihrer Geschichte verbündet haben, ist ja nun wirklich von beeindruckender Hässlichkeit.
Die EU hingegen, und ganz besonders deren im linken Teil des politischen Spektrums verortete Eliten, hat sich dem gegenüber stets als moralisch höherwertige „soft power“ stilisiert, die allein mit der Macht der besseren Argumente und schlimmstenfalls dem Geld der Deutschen ihre Interessen durchzusetzen vermag. Redlich war das nie, schon allein wegen der Abhängigkeit Europas vom militärischen Schutzschild der Vereinigten Staaten.
Um so befremdlicher ist, wie die EU und einzelne Mitgliedstaaten angesichts des immer klarer sichtbar werdenden Migrations-Fiaskos auf ihr Moralgesülze von gestern pfeifen und genau das unternehmen, was den Amerikanern jahrzehntelang vorgeworfen wurde. In ihrer Planlosigkeit und Not suchen die Europäer das Bündnis mit der Türkei des Möchtegern-Sultans Recep Tayyip Erdoğan.
Der Deal ist simpel: Weil die EU völlig unfähig war und ist, ihre Außengrenze so zu sichern, wie das ihre Pflicht wäre, und weil die Politiker dieser Union hyperventilierende Panikattacken erleiden bei der Vorstellung jener Bilder, die eine robuste Sicherung der Außengrenzen nun mal mit sich bringt, soll Herr Erdoğan diesen Job erledigen. Nach dem bewährten Motto: Bastard, aber unser Bastard.
Die Türkei, so merkte Außenminister Sebastian Kurz jüngst an, gehe beim Sichern der Grenzen gegen illegale Migration „wesentlich entschlossener vor, als das in Europa üblich“ sei. Wer mit der Arbeit türkischer Sicherheitskräfte vertraut ist, weiß, was das bedeutet. Dafür, dass Erdoğan bereit ist, den mimosenhaften Europäern, die in Ohnmacht fallen, wenn sie irgendwo Blut sehen, die Drecksarbeit abzunehmen, sind die ganz offensichtlich bereit, ihren moralischen Imperialismus kurz in den Schrank zu stellen und auf jene Werte zu pfeifen, die sie sonst hochmütig vor sich her tragen.
Anstatt die Beitrittsgespräche mit der Türkei für beendet zu erklären angesichts des zügigen Umbaus des Landes in eine islamisch fundierte Autokratie, eine Art Russland mit Minarett, will EU-Kommissar Johannes Hahn nun diese völlig sinnlosen Verhandlungen neu beleben. Dass der jüngste „Fortschrittsbericht“ der EU in der Causa Türkei ein Rückschrittsbericht ist, wird da zur bloßen Formalie. „Deutliche Mängel beeinträchtigten die Justiz sowie die Meinungs- und Versammlungsfreiheit“, ist da etwa zu lesen – wie man sich einen EU-Kandidaten halt so vorstellt. Macht alles nichts, solange Erdoğan behilflich ist, uns Migranten vom Hals zu schaffen.
Könnte ja sein, dass die EU einfach von den Amerikanern lernt, wie man Interessen durchsetzt. Dann wäre es aber auch Zeit, den Gestus der moralischen Überlegenheit in den Müll zu entsorgen. („Presse“)
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