Von Friedrich Fröbel
Dem “Vorwort” folgend, ist dies der erste Teil einer Reihe von Betrachtungen mit dem Ziel, die Trümmer deutscher Identität auf einem Platz zusammenzutragen, so daß sie einzeln wie in ihrem Zusammenhang betrachtet werden und bei Bedarf als Material dienen können zu einer Rekonstruktion des Fundaments eines freiheitlichen deutschen Rechtsstaats.
In Übereinstimmung mit dem bisherigen Ergebnis1) der kleinen Umfrage, die das Vorwort enthielt, wird der Schwerpunkt dieser Reihe auf Zeiten vor der deutschen Kapitulation am 11. November 1918 liegen, nach welchem Datum deutsche Souveränität entweder gar nicht, mehr oder weniger stark eingeschränkt (was dem “gar nicht”, nach dem Sinn des Begriffs “Souveränität”, gleichkommt) oder in pathologischer Form bestanden hat; wo keine Souveränität ist, ist Fremdbestimmung, wo diese ist, kann eigene Identität sich nicht entfalten, und wo Fremdbestimmung zum Dauerzustand wird, wird eigene Identität nach und nach verschüttet, am Ende vernichtet. Der Weg in die “geistig-kulturelle Vorkriegszeit” ist freigeworden, nachdem in den vergangenen Jahren vor allem ausländische Historiker wie Christopher Clark und Niall Ferguson, aber auch deutsche wie Jörg Friedrich der Vorstellung ein Ende gemacht haben, das Deutsche Reich habe mehr als andere Nationen Schuld getragen am Ausbruch des Weltkriegs. Sogar in einer ZDF-Dokumentation, sie muß etwa um die Zeit der Fußball-Weltmeisterschaft 2006 gelaufen sein, wurde gezeigt, wie sehr sich im Gegenteil der deutsche Kaiser Wilhelm II. mit allen Mitteln bis zur letzten Sekunde bemühte, den Kriegsausbruch abzuwenden. Befreit von nur zu offensichtlich als politische Waffen konstruierten moralistischen Vorhaltungen, können wir uns in Ruhe anschauen, wie wir einmal gewesen sind, um zu entscheiden, wie wir sein oder (teilweise wieder) werden wollen.
Als begeistertem Wissenschaftler steht mir die Wissenschaft naturgemäß besonders nahe. Niemand wird bestreiten, daß sich die deutsche Wissenschaft im Jahre 1914 und davor in einem ungleich besseren und auch für ausländische Forscher und Studenten attraktiveren Zustand befunden hat als heute. Man lernte eher Deutsch als Englisch, um in der Wissenschaft mitlesen und -reden zu können. Die durchschnittliche jährliche “Ausbeute” an Nobelpreisen, die auf das Konto des deutschen Wissenschaftssystems ging – und es ist heute zweifellos weit mehr so als damals, daß auf solche “zählbaren” Erfolge geschielt wird –, war nie wieder annähernd so hoch wie in der Zeit bis einschließlich 1918. So groß war die weltweite Achtung vor der deutschen Wissenschaft, daß nach Kriegsausbruch die Propaganda der Gegenseite versuchte, einen Keil zwischen den “deutschen Aggressor” und die geachtete deutsche Wissenschaft zu treiben, um der deutschen Sache in den Augen der Welt den Bonus zu nehmen, den Kampf als “selbstloses Volk der Dichter und Denker” zu führen. Auf diese Zumutung reagierten mehr als 3000 deutsche Wissenschaftler (darunter auch Max Planck, dessen Namen die 1911 gegründete “Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft” seit ihrer Neugründung 1948 führt) am 23. Oktober 1914 mit der “Erklärung der Hochschullehrer des Deutschen Reiches“, dem ersten “Trümmerteil” dieser Reihe. Sie lautete:
Wir Lehrer an Deutschlands Universitäten und Hochschulen dienen der Wissenschaft und treiben ein Werk des Friedens. Aber es erfüllt uns mit Entrüstung, daß die Feinde Deutschlands, England an der Spitze, angeblich zu unsern Gunsten einen Gegensatz machen wollen zwischen dem Geiste der deutschen Wissenschaft und dem, was sie den preußischen Militarismus nennen. In dem deutschen Heere ist kein anderer Geist als in dem deutschen Volke, denn beide sind eins, und wir gehören auch dazu. Unser Heer pflegt auch die Wissenschaft und dankt ihr nicht zum wenigsten seine Leistungen. Der Dienst im Heere macht unsere Jugend tüchtig auch für alle Werke des Friedens, auch für die Wissenschaft. Denn er erzieht sie zu selbstentsagender Pflichttreue und verleiht ihr das Selbstbewußtsein und das Ehrgefühl des wahrhaft freien Mannes, der sich willig dem Ganzen unterordnet. Dieser Geist lebt nicht nur in Preußen, sondern ist derselbe in allen Landen des Deutschen Reiches. Er ist der gleiche in Krieg und Frieden. Jetzt steht unser Heer im Kampfe für Deutschlands Freiheit und damit für alle Güter des Friedens und der Gesittung nicht nur in Deutschland. Unser Glaube ist, daß für die ganze Kultur Europas das Heil an dem Siege hängt, den der deutsche „Militarismus“ erkämpfen wird, die Manneszucht, die Treue, der Opfermut des einträchtigen freien deutschen Volkes.
Im deutschen Geist, soviel scheint sich diesem Trümmerteil entnehmen zu lassen, sind “Selbstbewußtsein” und “Selbstentsagung”, “Ehrgefühl” (statt “Ehren”mord) und “Pflichttreue” (statt grundlosem Hochmut), “Freiheit” und “Unterordnung unter das Ganze”, Friedensliebe und Wehrhaftigkeit, wo sie nötig ist, jeweils zwanglos miteinander versöhnt. Persönliche Ehre etwa hat man nicht in einer äußerlichen Geltung, sondern in der Erfüllung einer innerlich empfundenen Pflicht, egal, ob sonst irgendjemand davon Notiz nimmt. Der Soldat steht in hohem Ansehen nicht, weil er gerne oder gewissenlos tötete, sondern einzig, weil er bereit ist, seine Gesundheit und sein Leben für etwas einzusetzen, das über ihn als Einzelperson hinausreicht. Und der “preußische Militarismus” war ein geistiger, intelligenter. Die 1810 im Zuge der geistigen Rüstung zu den Befreiungskriegen gegen die Bonapartesche Fremdherrschaft gegründete Berliner Universität wurde jedenfalls von preußischen Offizieren und Staatsbeamten mit Eifer besucht, so auch von dem berühmten späteren Generalstabschef Helmuth von Moltke (dem Älteren), der seinerzeit berichtete: „Gratis höre ich einen cours de littérature française, auf dem Bureau ein Kollegium über neuere Geschichte und eines über Goethe auf der Universität. Das Auditorium besteht fast zu einem Drittel aus Militärs, ja in einem englischen Kollegium sind wir unserer mehr als Studenten.“ Und der ordentliche Professor der Philosophie an der Berliner Universität Hegel vermerkte seinerseits: “Hier kommt man sogar dazu, Majores, Obristen, Geheime Räte unter seinen Zuhörern zu haben.“
Praktisch keiner der Unterzeichner der “Erklärung der Hochschullehrer” hat sich nach dem verlorenen Krieg von dieser Erklärung distanziert, ebensowenig wie – trotz Aufforderung dazu – die Unterzeichner des vorangegangenen “Manifests der 93“. “Widerlegt” war die deutsche Nation am Ende des Krieges nicht geistig, sondern lediglich materiell: durch die numerische und materielle Überlegenheit ihrer Gegner nach dem überraschenden Kriegseintritt der USA auf deren Seite.
Längst konnte man selbst der (vor-antipegidanischen) BRD-Presse entnehmen, daß die deutschen Professoren, Schriftsteller (wie hier Gerhart Hauptmann) und Universitäten (am Ziel des Links kurz nach unten scrollen) damals völlig zu Recht voll Empörung auf die gegnerische Greuelpropaganda reagiert hatten; mir liegen zusätzlich zu einem “WELT”-Artikel vom 27. August 2013 etwa auf Papier ein Artikel von Henning Ritter in der FAS vom 23. November 2008, S. 31, und ein Leserbrief von Dr. Susanne Ritter aus Leinfelden in der FAZ vom 22. Dezember 2008, S. 11, vor, in welchem sie auf die Beschießung der Kathedrale von Reims eingeht: “Der wahre Sachverhalt sollte … nicht unerwähnt bleiben. Mein Vater war im ersten Weltkrieg sofort nach dem Abitur zur Feldartillerie, die vor Reims lag, eingezogen worden. Daß die Kathedrale von den Deutschen beschossen wurde, hatte seinen Grund nicht in barbarischer Abkehr von europäischen Traditionen, sondern wurde von den Franzosen dadurch provoziert, daß sie einen militärischen Beobachtungsstand auf dem Turm der Kathedrale eingerichtet hatten. Die Gegner hätten ihre Kirche nicht in die Verteidigungsoperation einbeziehen dürfen.”
Wenn heutige BRD-Politiker und -Journalisten Bürger, die sich, wie damals praktisch die gesamte deutsche Wissenschaft, mit ganzer Seele und Kraft zu ihrer (zu allem Überfluß immer schon übernationalen) deutschen Kultur bekennen und sich für ihren Erhalt einsetzen, als “Nazis” beschimpfen, dann hallen darin auf umheimliche Weise die Verleumdungen und Spaltungsversuche der deutschen Kriegsgegner von 1914 nach; wenn sie diese Bürger gar als “Dumpfbacken” bezeichnen, dann kann man sich die Ohren gar nicht fest genug zuhalten, um den Knall des wuchtigen Backenstreichs nicht zu hören, den sie sich damit selbst versetzen. Denn sie bezeichnen darin als “Dumpfbacken” implizit auch jene damalige Wissenschaftlergemeinde, die der heutigen um einiges, jenen Politikern und Journalisten aber geistig und leider auch charakterlich fast unendlich überlegen gewesen ist. Wer so etwas tut, erweist und bezeichnet sich damit selbst als charakterliches und intellektuelles, nun, eben: “Nichts”. Allerdings: Wer sogar das Kunststück fertiggebracht hat, aus den eigenen Reihen eine Dame ohne Hochschulabschluß zum “Bundesminister für Bildung und Forschung” zu machen, der hört und fühlt womöglich nicht einmal mehr, wenn der Backenstreich klatschend einschlägt.
Und man kann ja immer noch diffamieren und lügen (lassen). Ein “emeritierter Professor”, der als akademisches Westgewächs im zarten 50. Lebensjahr im Zuge der universitären Landnahme der Nachwendezeit 1993 seine Erst- und Letztberufung an die Berliner Humboldt-Universität feiern konnte, durfte sich im “Tagesspiegel” einhundert Jahre nach Kriegsausbruch dahingehend äußern, die deutschen Professoren seien damals “als Ideologen deutscher Kulturüberlegenheit in Erscheinung” getreten. Als “Ideologen”. Genau. Und er darf behaupten, es hätten ihnen am 21. Oktober 1914 “über 1000” britische Gelehrte “geantwortet”. Abgesehen davon, daß auch das größte britische Genie nicht in der Lage gewesen wäre, am 21. Oktober auf eine Erklärung vom 23. Oktober zu “antworten” (auch nicht “ein wenig”, wie der Herr Professor wohl nahelegen zu können meint), kann jeder Interessierte hier selbst nachzählen, wieviele britische Gelehrte es tatsächlich waren. Ich habe 117 gezählt. Der Unterschied beträgt mal eben eine Größenordnung. Es scheint also neben Lügenpresse und Lügenpolitikern noch eine dritte Kategorie zu geben: den Lügenprofessor. Der Herr schließt seinen Artikel, im Hinblick auf die standhafte Weigerung der deutschen Professoren, sich nach dem Krieg von ihren Erklärungen aus den ersten Kriegsmonaten zu distanzieren: “Von der Universität als öffentlichem Gewissen der Nation … konnte im Berlin an der Wende von der Monarchie zur Republik in keiner Weise mehr die Rede sein.” Wenn er sich da mal nicht irrt.