Von Friedrich Fröbel
Zivilisation beruht auf Sprache. Ohne Sprache keine Gesetze. Ohne Gesetze kein Staat. Ohne Staat keine Zivilisation.
Gesetze enthalten Rechtsbegriffe. Wie „Religion(sausübung)“ (Art. 4 GG). Jeder Rechtsbegriff wird als Begriff, als ein Stück Sprache geboren, bevor er ein „Rechts“-Begriff werden kann. Begriffe haben Inhalte. Diese Inhalte können nicht nur, sondern müssen präzise bestimmt werden, wenn mit Begriffen argumentiert werden soll, wenn der Inhalt von Gesetzen klar, wenn Gesetze anwendbar, wenn Staat und damit Zivilisation möglich sein sollen.
Also: Was ist „Religion“? Das umfassendste Wörterbuch der Deutschen Sprache, in 33 Bänden, herausgegeben von Jakob und Wilhelm Grimm, führt uns mitten ins Zentrum des Problems. Der Begriff „Religion“ fordert uns eine Entscheidung ab. Wir müssen uns entscheiden zwischen zwei möglichen Inhalten. Im Deutschen Wörterbuch lesen wir:
„die aufnahme dieses fremdwortes erfolgt erst um 1600. lat. religio leitete de nat. deor.2, 28 von relegere ab. in der christlichen theologie herrschend wurde die etymologie des (inst. div. 4, 28): vinculo pietatis obstricti deo et religati sumus, unde religio nomen cepit [„mit dem Band der Liebe sind wir Gott verpflichtet und an ihn rückgebunden, wovon die Religion ihren Namen hergenommen hat“; Übersetzung F. F.]. diese seite des begriffs, in sofern sie ein rechtliches verhältnis gegenüber gott darstellt, tritt charakteristisch in denältesten deutschen übersetzungen von religio hervor [Hervorhebungen hier, F.F.].“
Der eine mögliche Inhalt folgt also aus der Ableitung des Begriffs „religio“ von „relegere“ („wiederlesen“) durch Cicero. „Religion“ wäre dann nicht mehr als „die gewissenhafte Sorgfalt in der Beachtung von Vorzeichen und Vorschriften“ (so zitiert in„Wikipedia“). Entsprechende „Vorschriften“ könnten beliebigen zufälligen, geschichtlichen und willkürlichen, kurz: nicht dem geistigen Verhältnis zu Gott angehörigen Inhalts sein, wie etwa Beschneiden und Schächten, oder was man sich sonst nur immer ausdenken mag. Alles kann Inhalt einer solchen „Religion“ sein, und es ist nicht ansatzweise erkennbar, warum „Alles“ zusätzlich zur allgemeinen Handlungfsfreiheit des Art. 2 Abs. 1 GG besonders geschützt sein sollte.
Wir sind nun aber keine alten Römer, sondern Christen gewordene Germanen, also Deutsche. Für unseren, den abendländischen Kulturraum maßgebend ist daher der zweite im Grimmschen Wörterbuch genannte Begriffsinhalt, die Ableitung der „Religion“ von „religare“ („rückbinden“) durch den Kirchenvater Lactantius, den Pico della Mirandola, passend zum inhaltlichen Gegensatz, als „christlichen Cicero“ bezeichnet hat: Religion als „rechtliches Verhältnis gegenüber Gott“.
„Rechtliches Verhältnis gegenüber Gott“ heißt genau dasselbe wie „Rückbindung“, wenn man diesen Begriff analysiert: „Rück-„, weil offenbar eine Loslösung vorangegangen und damit eine Rück- oder Wiederbindung des zunächst von Gott Losgelösten bzw. „Befreiten“ überhaupt erst möglich geworden war. Und in einem Rechtsverhältnis können nur Freie zueinander stehen. Für Juden ist die Freiheit des Menschen gegenüber Gott, das Auf-einer-Stufe-Stehen nach Begehen der „Erbsünde“, im Alten Testament deutlich genug ausgedrückt: Nach dem „Sündenfall“ sagt Gottvater über Adam: „Siehe, Adam ist worden wie unsereiner“. Für Christen, in deren Heiliger Schrift dieses zentrale Gotteswort damit ebenfalls enthalten ist, ist darüberhinaus in der göttlichen Dreieinigkeit „der Mensch selbst ein Moment im Begriffe Gottes“ (Hegel). Der Mensch hat die Möglichkeit, sich durch Ablegen der natürlichen Beschränktheit seines Geistes zu Gott zu erheben und so selbst „Gott zu sein“, wie es Benedikt XVI. in einer Predigt in Rom einmal so überraschend deutlich formuliert hat.
Daß das Grundgesetz „Religion“ selbstverständlich in dieser christlich geprägten Bedeutung auffaßt und nicht anders, habe ich bereits an anderer Stelle hervorgehoben, ich zitiere mich kurz selbst:
Laut Grundgesetz-Präambel hat sich das Deutsche Volk das Grundgesetz gegeben „im Bewußtsein seiner Verantwortung vor Gott“. Und mit „Gott“ haben die Väter des Grundgesetzes nicht Allah gemeint, sondern Gott den Dreieinigen. Der das am besten wissen mußte, war der Präsident des Parlamentarischen Rates, in dem das Grundgesetz erarbeitet wurde. Sein Name war Konrad Adenauer. Am 20. September 1949 stellte dieser, inzwischen Bundeskanzler, in seiner ersten Regierungserklärung klar, wes’ Geist das Grundgesetz ist: “Meine Damen und Herren! … [Im] Namen der gesamten Bundesregierung kann ich folgendes sagen: unsere ganze Arbeit wird getragen sein von dem Geist christlich-abendländischer Kultur und von der Achtung vor dem Recht und vor der Würde des Menschen.“
Im Koran wird der Mensch nirgendwo frei gegenüber Gott. Der Koran enthält zwar die Adamsgeschichte in arg verkürzter Form, aber die einerseits bedrückende, anderseits befreiende (wenngleich zu überwindende) Trennung von Gott findet nicht statt, und das „Siehe, Adam ist worden wie unsereiner“ fehlt. Vom Menschwerden Gottes in Christus ganz zu schweigen. Im Koran ist der Mensch nicht auf den jüdisch-christlichen Prozeß des absoluten Getrenntwerdens (Befreiung) von Gott als Voraussetzung einer geistigen Rückbindung(„religio“) an ihn angelegt; daß ein geistig tief verwurzelter freiheitlicher Rechtsstaat dem Islam praktisch unverwandt gegenübersteht, versteht sich daraus von selbst.
Es ist also Unsinn, vom Islam als einer Religion zu sprechen, wenn der Begriff Religion einen anderen als banalen (s.o.) und im Kontext des Grundrechtsabschnitts des Grundgesetzes überhaupt einen Sinn haben soll. Zwar sprechen die Brüder Grimm im oben zitierten „Religions“-Artikel ihres Wörterbuches von der „mohammedanischen Religion“. Das geschieht aber offenbar lediglich wiedergebend-gedankenlos. Der Islam ist keine Religion. Nicht nach unserem, nach dem jüdisch-christlich geprägten, auf individuelle, wenn auch idealerweise sich an die absolute göttliche Liebe zurückbindensollende Freiheit angelegten Verständnis des deutschen Grundgesetzes. Für praktizierende Mohammedaner einschlägig ist daher nicht Art. 4 GG, sondern Art. 2 Abs. 1. Nicht weniger, aber auch nicht mehr.